Ästhetische Rehabilitation mit Kronenverlängerung und Implantation nach inkomplettem passivem Zahndurchbruch

Tief zerstörte Zähne unter scheinbar intakten Kronen stellen einen Behandler nicht selten klinisch und ethisch vor große Herausforderungen. Zumal dann, wenn sich der Patient seines desolaten Zustands nicht bewusst war und vom Umfang der Defekte und dem Ausmaß der wahrscheinlich notwendigen Therapieschritte regelrecht „kalt erwischt“ wird. Wünscht der Patient maximalen Zahnerhalt und nur festsitzenden Zahnersatz, lassen sich seriöse Prognosen erst nach Abschluss entsprechender Behandlungsschritte stellen.
Bei tief zerstörten Zähnen muss der Behandler entscheiden, mit welchen konservierenden, endodontischen und chirurgischen Maßnahmen er möglichst viele natürliche Pfeiler langfristig stabil erhalten kann und welche unterstützenden implantatprothetischen Eingriffe gegebenenfalls indiziert sind. Eine für den Patienten in jeglicher Hinsicht verständliche und nachvollziehbare Aufklärung über die Defektursachen und Informationen zu möglichen Therapien sind unabdingbar. Nur mit einer gemeinsamen Entscheidungsfindung [4,5] lässt sich gerade in solchen parodontal sensiblen Fällen eine anhaltend hohe Patientencompliance und damit ein stabiler Behandlungserfolg absichern.
Befundung
Als sich der 48-jährige Patient, starker Raucher mit gutem allgemeinem Gesundheitszustand, zum ersten Mal vorstellte, wollte er lediglich temporär auftretende, leichte Beschwerden im 2. Quadranten behoben haben. Die klinische Inspektion ergab einen unauffälligen funktionalen und parodontalen Status sowie insuffiziente und verblockte Kronen im Ober- und Unterkiefer. Zudem imponierten im Oberkiefer gingival nicht exponierte, quadratisch kurze Zahnkronen bei einem breiten Band attached Gingiva.
Ursache hierfür kann ein mukogingivaler Defekt in Form eines inkompletten passiven Zahndurchbruchs sein. Dabei migriert die dentogingivale Verbindung nicht, wie sonst bei der passiven Eruption, apikal, sondern das Gewebe verbleibt koronal [6]. Die röntgenologische Inspektion erhärtete den Verdacht.
Es zeigten sich im Verhältnis zu den Kronen überlange Zahnwurzeln und in der Oberkieferfront umfassten die Kronenränder den Zahnschmelz. Der Limbus alveolaris lag sehr nahe an, teils sogar ohne physiologischen Abstand zu der Schmelz-Zement-Grenze. Des Weiteren waren die Zähne 25 und 26 kariös vollständig zerstört, zeigten Knochenverlust aufgrund der verletzten Biologischen Breite und waren nicht mehr erhaltungswürdig, ebenso wie 36, 44 und 45.
Der Patient wurde darauf hingewiesen, dass über den Erhalt der Zähne 17, 15, 23, 32, sowie notwendige und mögliche implantatprothetische Therapien erst nach dem Entfernen aller Kronen (EKR) in Ober- und Unterkiefer final entschieden werden könne, zumal auch die restlichen Kronen kariös und insuffizient waren (Abb. 1 bis 4).
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Abb. 1: Klinische Ausgangssituation mit breiter Gingiva und kurzen Kronen im Oberkiefer.
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Abb. 2: Klinische Ausgangssituation mit breiter Gingiva und kurzen Kronen im Oberkiefer.
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Abb. 3: Röntgenologische Ausgangssituation mit kariösen und endodontischen Läsionen und in der Oberkieferfront mit Zahnschmelz unter den Kronenrändern.
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Abb. 4: Nicht mehr erhaltungswürdige Pfeiler in regio 25 und 26.
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Therapieziel
Mit diesem Ablauf war der Patient einverstanden, allerdings wollte er vor Behandlungsbeginn die für einen langfristigen Behandlungserfolg angebrachte Raucherentwöhnung durchführen. Daher wurden die Kronen erst ein Jahr später abgenommen. Die Pfeiler waren großenteils massiv zerstört. Um ausreichende Retentionen für den Aufbau zu erhalten, war eine Kronenverlängerung mit apikaler Verlagerung des marginalen Knochensaums und der darüber liegenden Gingiva indiziert.
So kann sich die Biologische Breite entsprechend etablieren und der gewünschte Ferrule-Effekt geschaffen werden. Über den „Fassreifen“ werden die Kaukräfte in das Dentin abgeleitet und auf das Parodontalligament übertragen. Somit bleiben Pfeiler vital und Zahnkronen in ihrer Struktur erhalten [7]. Als Therapieziel wurde in Übereinstimmung mit dem Patienten eine Einzelzahnversorgung festgelegt.
Aufgrund der Vorschädigungen an den Pfeilern lassen sich spätere Revisionen oder auch Extraktionen nicht ausschließen. Einzelkronen erleichtern den Zugang und benachbarte Restaurationen werden nicht unnötig beschädigt. Daneben, aber nicht weniger wichtig, sind Einzelkronen besser hygienefähig.
So informiert, stimmte der Patient anhand eines Make over mit Tetris flow dem Behandlungsverlauf mit allen vorgeschlagenen konservierenden und endodontischen Maßnahmen einschließlich der implantatprothetischen Versorgung zu, wobei er notwendige Provisorien grundsätzlich festsitzend wünschte (Abb. 5 und 6).
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Abb. 5: Imaging für die „neue“ Gingivakontur von 13 bis 23.
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Abb. 6: Ober- und Unterkieferzähne nach EKR mit massiven Defekten bis auf Gingivaniveau im Front- und Seitenzahnbereich.
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Therapeutischer Workflow
Vor dem Entfernen der Kronen wurden Situationsmodelle als Grundlage für die weiteren Arbeiten angefertigt und mit einem Imaging das Ausmaß des abzutragenden Alveolarknochens und der angestrebte Verlauf der Gingiva markiert. Dem Patienten gibt das Imaging einen positiven und motivierenden Vorgeschmack auf seine möglichen „neuen Zähne“.
Die Eingriffe erfolgten in mehreren Sitzungen und jeweils separat für Ober- und Unterkiefer. In dem knapp zweijährigen Behandlungszeitraum war der Patient auch in den notwendigen Heil- und provisorischen Phasen sehr engagiert und zeigte eine hohe Compliance.
Exkavation
Bei Vorliegen eines inkompletten passiven Zahndurchbruchs mit überkronten Pfeilern besteht auch bei tiefen Defekten eine große Chance, die natürlichen Zähne vital erhalten zu können. Exkavationen mit Pulpaeröffnung sind in solchen Fällen in aller Regel nicht zu befürchten. Dennoch sollten, um die Integrität der Pulpa nicht zu gefährden, ein hochtouriges Exkavieren mit hohem Druck vermieden und frische Rosenbohrer mit scharfen Schneiden verwendet werden.
Nach wie vor ist auch eine ausreichende Heilphase unter einer dichten plastischen Aufbaufüllung vorzusehen. In einem ersten Schritt wurde daher nur so viel kariöses Dentin entfernt, wie damit ein Überleben der Restauration gesichert werden konnte [8].
Auf diese Weise gelang es, im Oberkiefer die Zähne 15, 11, 21, 27 und im Unterkiefer 35, 34, 33, 31, 41, 42 und 43 vital zu erhalten. Alle endodontisch bereits alio loco behandelten Zähne 17, 13, 12, 22, 23, und 32 waren revisionsbedürftig.
Chirurgische Kronenverlängerung (ARF)
Nach der Exkavation und den Aufbauten konnte mit der Kronenverlängerung begonnen werden. Dabei ermöglicht nur eine Kronenverlängerung nach apikal – nicht nach inzisal – eine entsprechende Verlagerung der Biologischen Breite [2]. Das apikal des vorgesehenen Restaurationsrandes freiliegende Dentin ist dann Ausgangspunkt für die sich neu einstellende Biologische Breite [1].
Mittels Mukoperiostlappen wurde der Alveolarkamm für die chirurgische Kronenverlängerung freigelegt und überschüssige Gingiva entfernt. Der Knochen wurde mit kleinen Rosenbohrern und Handinstrumenten so weit nach apikal reduziert, bis eine für die Kronenpräparation mit zirkulärem Ferrule-Effekt ausreichende Zahnlänge erreicht war. Dadurch werden die einwirkenden Kaukräfte in das Dentin abgeleitet und auf das Parodontalligament übertragen.
Zirkuläre Ferrule-Präparationen sind daher vor allem bei flächig zerstörten Zähnen das Mittel der Wahl [3]. Abschließend wurden die Gewebelappen leicht nach palatinal sowie lingual an den Zahnhälsen vernäht und zum Schutz entsprechende, mit einem Übertragungsschlüssel aus Futar (Kettenbach, Eschenburg) hergestellte Kurzzeitprovisorien eingegliedert (Abb. 5 bis 14).
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Abb. 7: Ober- und Unterkieferzähne nach EKR mit massiven Defekten bis auf Gingivaniveau im Front- und Seitenzahnbereich.
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Abb. 8 bis 10: Kronenverlängerung und Aufbau mit deutlichem Ferrule der Seitenzähne im II. Quadranten.
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Abb. 9.
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Abb. 10.
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Abb. 11: Nahtlegung nach Abschluss der chirurgischen Kronenverlängerung im Unterkiefer.
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Abb. 12 und 13: Abgeheilte Situation im Unterkiefer (vor Extraktion von Zahn
44 und 45).
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Abb. 13.
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Abb. 14: Abgeheilte Situation im Oberkiefer (nach Extraktion von Zahn 25 und 26).
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Extraktion und Langzeitprovisorien
Nach etwa vierwöchiger Ausheilzeit erfolgte die Vermessung mit dem HeadLines nach Rainer Schöttl (MediPlus, Unterleinleiter). Damit werden Gesichtsmitte und Bipupillarlinie evaluiert und die Okklusionsebene über die Camper‘sche Ebene als Referenz definiert. Die Camper‘sche Ebene ist dabei durch die beiden Traguspunkte rechts und links am Ohr und durch die Spina nasalis anterior definiert, waagerecht bzw. parallel zur Stand- oder Sitzfläche des Patienten [10].
Damit ist ein gesicherter Bezug zur Okklusionsebene als Referenz für die Artikulatorsteuerung gegeben, wobei die Bissgabel des Head-Lines die Tischebene des Artikulators repräsentiert und über ein Montageregistrat positioniert wird. Die Positionierung des Modells im Artikulator erfolgt systemimmanent mit dem HIPMount (MediPlus, Unterleinleiter). Anhand dieser Informationen und einer diagnostischen Wachsaufstellung wurden vom Zahntechniker metallunterstützte Langzeitprovisorien aus Komposit – im Unterkiefer mit Anhänger bei 36 sowie 44 und 45 – angefertigt und anstelle der bisherigen Kurzzeitprovisorien eingegliedert.
Zuvor waren die Zähne 25 und 26 sowie 44 und 45 extrahiert worden. Die Langzeitprovisorien verblieben drei Monate in situ, damit sich die Biologische Breite ungestört neu ausbilden konnte. Die Ästhetik der Provisorien überzeugte den Patienten ebenso wie die Phonetik.
Implantation
Die für die geplante Einzelzahnversorgung benötigten neun Implantate (Camlog Screw-Line Promote, Camlog, Wimsheim) wurden anhand einer DVT-Aufnahme in regiones 14, 24, 25, 26, 36, 37, 45, 46 und 47 gemäß Protokoll auf Knochenniveau freihändig eingebracht. Die Implantationen erfolgten wiederum in zwei Sitzungen getrennt für Ober- und Unterkiefer. Je nach Position wurden unterschiedliche Durchmesser (3,8 mm bis 5,0 mm) und Längen (11 mm und 13 mm) inseriert.
In regio 37 lag eine starke linguale Einziehung vor, hier wurde wegen des Risikos einer Perforation ein Implantat mit nur 9,0 mm Länge eingebracht. Parallel wurde an allen Implantatpositionen eine gesteuerte Knochenregeneration (GBR) mit einem Gemisch aus Eigenknochen und Knochenersatzmaterial durchgeführt. Der jeweilige Situs wurde, wo notwendig, mit resorbierbarem Membranmaterial abgedeckt und die Gingiva darüber vernäht.
Alle Implantate heilten gedeckt ein. Vier Monate später wurden die Implantate mit Verschiebelappen freigelegt und entsprechende Gingivaformer (CAMLOG Gingivaformer PS, zylindrisch) eingeschraubt (Abb. 15 bis 20).
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Abb. 15 bis 18: I. bis IV. Quadrant mit präparierten Pfeilern und Gingivaformern über den Implantaten.
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Abb. 16.
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Abb. 17.
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Abb. 18.
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Abb. 19: Röntgenkontrollaufnahme nach Implantation und mit eingegliedertem Langzeitprovisorium.
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Abb. 20: Metallunterstütztes Langzeitprovisorium im Oberkiefer.
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Definitive Restauration
In der Regel sollten nach einer chirurgischen Kronenverlängerung im ästhetischen Bereich sechs und im Seitenzahnbereich drei Monate abgewartet werden, bis ein definitiver Zahnersatz eingegliedert wird. Mit den Heilphasen nach den Extraktionen und Implantationen waren beide Bedingungen erfüllt, so dass mit den definitiven Abformungen im Ober- und Unterkiefer die prothetische Phase begonnen werden konnte.
Dafür wurde der Verlauf der Gingiva mit marginalen Gingivektomien anhand eines Elektrotoms ästhetisch noch minimal optimiert. So nachpräpariert, erfolgte die Abformung. Dafür wurden die subgingival liegenden Präparationsränder in der Doppelfadentechnik freigelegt [9].
Diese Retraktionsmethode schafft die optimale Voraussetzung für eine präzise Abformung mit einem individuellen Löffel. Nach abschließender Vermessung mit dem HeadLines wurden die Unterlagen an den Zahntechniker übergeben.
Um Bisshöhe und Bisslage final überprüfen zu können, wurden für die Rohbrandeinprobe der Einzelkronen aus Lithium-Disilikat-Glaskeramik (IPS e.max, Ivoclar, Ellwangen) Kunststoffstops aus Pattern Resin über den Implantaten positioniert. Die final individuell charakterisierten Implantat-Einzelkronen wurden verschraubt, die übrigen Einzelkronen adhäsiv zementiert (RelyX Unicem, 3M Espe, Neuss).
Eine Woche nach Eingliederung imponierte eine absolut reizfreie intraorale Situation mit ästhetisch natürlichem Weichgewebe. Die zeitgleich aufgenommenen Röntgenkontrollaufnahmen lassen die optimale Passung der Restaurationen erkennen. Auch die Kontrollaufnahme ein Jahr später zeugte stabile knöcherne Strukturen mit normalem Remodelling an den Implantaten (Abb. 21 bis 27).
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Abb. 22.
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Abb. 23.
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Abb. 24.
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Abb. 25 und 26: Röntgenkontrollaufnahme eine Woche nach Eingliederung und …
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Abb. 26.
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Abb. 27: … bei einem Nachsorgetermin ein Jahr nach Eingliederung.
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Schlussbetrachtung
Wird ein inkompletter passiver Zahndurchbruch diagnostiziert, kann eine chirurgische Verlängerung klinischer Zahnkronen, zumal in der Front, auch bei bereits tief zerstörten Pfeilern zu einem gut vorhersagbaren, ästhetischen wie funktionellen Ergebnis führen. So verlängerte Pfeiler können überkront und in die Restauration langfristig stabil integriert werden.
Unnötige Extraktionen bleiben dem Patienten erspart. Wo jedoch aufgrund bestehender Defekte Pfeiler im Seitenzahnbereich nicht mehr erhalten werden können, sind implantatgetragene Restaurationen sinnvolle, weil die Okklusion schützende Maßnahmen.
Mein Dank gilt meinen Kollegen und meinem Team für die Unterstützung sowie dem Zahntechniker Kes Carpenter aus Berlin für die konstruktive Zusammenarbeit und seine perfekten Arbeiten.