Die autogene Knochenaugmentation in der präprothetischen Kieferchirurgie

Im Rahmen der präprothetischen Chirurgie ist die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit des Kauorgans in funktioneller, ästhetischer und phonetischer Hinsicht, unter Schonung und Erhaltung der Zähne und aller Gebilde des mandibulo-maxillären Systems, anzustreben. Schäden, die in Bezug auf Größe, Lokalisation und der jeweiligen Durchblutungsverhältnisse das Heilungspotential des Knochens übersteigen (sogenannte „critical size“-Läsionen), limitieren die Fähigkeit des menschlichen Skelettsystems zur Selbstregeneration.
Derartige knöcherne Defekte, beispielsweise hervorgerufen durch Inaktivitätsatrophie, Fraktur, Tumor oder dem Entfernen von infiziertem Knochenmaterial, müssen, um eine prothetische Rehabilitation (beispielsweise vor enossaler Implantation) zu ermöglichen, aufgefüllt werden. Der “Goldstandard” der Therapie derartiger Defekte, besonders bei größeren knöchernen Defiziten, ist immer noch die Transplantation von autogenem Knochen. Da es sich hier um körpereigenes Material handelt, werden keine immunologischen Reaktionen ausgelöst. Der bestehende Defekt wird, neben dem Knochen selbst, mit für eine weitere Knochenneubildung erforderlichen Matrixproteinen und Zellen aufgefüllt.
Neben diesen deutlichen Vorteilen bestehen Nachteile wie potentielle relevante Komplikationsraten (Nachblutungen, Infektionen, Nervenverletzungen, anhaltende Schmerzen). Weiterhin reicht die enoral verfügbare Materialmenge bei Mehrfacheingriffen und bei ausgedehnteren Defekten oft nicht aus, weshalb hier teilweise zeit- und arbeitsaufwändige Prozeduren von extraoral unternommen werden müssen. In dem vorliegenden Artikel wird auf Möglichkeiten der Entnahme und Verwendung autogenen Knochens in der Kieferchirurgie eingegangen.
Voraussetzungen: Osteokonduktion und -induktion
Mit knöchernen Heilungsvorgängen sind die Begriffe „Osteokonduktion“ und „Osteoinduktion“ eng assoziiert [1]. So wird unter Osteokonduktion der Vorgang der Rekrutierung und Migration von potenten osteogenen Zellen an die Oberfläche des Materials verstanden. Der eingebrachte Füllstoff dient also als Matrix für das einwachsende, ortsständige Knochengewebe. Dieser Prozess schließt Differenzierung und Proliferation der einwachsenden Zellen mit ein. Bei geeigneter Oberflächenstruktur, Biokompatibilität, Porosität und geeigneter chemischer Zusammensetzung (zusammengefasst als Osteokonduktivität) tritt das appositionelle Knochenwachstum ein.
Der neugebildete Knochen lagert sich dem eingebrachten ossären Material auf und ersetzt dieses idealerweise. Im Gegensatz zu der Osteokonduktion beinhaltet die Osteoinduktion die Bildung neuen Knochens durch die Rekrutierung undifferenzierter mesechymaler pluripotenter Zellen, welche in Osteoblasten, Osteozyten und Osteoklasten differenzieren [13]. Dieser Prozess wird primär durch bone morphogenetic proteins (BMPs) gesteuert. Zusammen mit extrazellulärer Flüssigkeit, mit Proteinen und anderen Wachstumsfaktoren werden diese aus dem allogenen Knochen freigesetzt und aktivieren die ossäre Regeneration. Somit führen derartige osteoinduktive Transplantate zu einer gesteigerten Knochenneubildung [16]. Der osteokonduktiv und osteoinduktiv wirksame autogene Knochen, der dem Patienten an einer Stelle entnommen und an eine andere Stelle transplantiert wird, ist somit der chirurgische „Goldstandard“ bei wiederherstellenden Augmentationen [7, 11]. Nach einer anfänglichen Resorption – weshalb ein anfänglicher Knochenüberschuss zu erzielen ist – wird das autogene Transplantat von den durch induktive Proteine aktivierten Osteoblasten in Folge wieder aufgebaut. Nach Transplantation des autogenen Knochens sind adäquate funktionelle Reize im Sinne einer Belastung des augmentierten Kiefers entscheidend. Bei funktioneller Nichtbelastung oder auch bei Fehlbelastung im weiteren Verlauf findet eine weitere, teilweise sehr ausgeprägte Resorption statt [3].
Die enorale Entnahme
Generell kann Knochen in geringeren Mengen von enoral gewonnen werden. Hier sind Symphysenund Kinnregion, Kieferwinkel und Unterkieferrand, bestehende Exostosen (z. B. Torus mandibulae), zahnlose Kieferabschnitte oder der Bereich des Jochbeins gut geeignet. Es ist von besonderem Vorteil für den Patienten, wenn das Transplantat gleich aus der Umgebung des eigentlichen Operationsgebiets entnommen werden kann und so keine zweite Inzision notwendig ist. Ist nur geringer Bedarf an Knochen vorhanden, so bietet es sich beispielsweise an, gleich die bei der Bohrung des Implantatbettes anfallenden knöchernen Partikel aufzubewahren und zu verwenden. Hierfür sind spezielle Knochenfilter im Sauger erhältlich. Umfangreichere Mengen an partikulärem Material zur Transplantation lassen sich auch durch Verwendung von Knochenschabern (Abb. 1) gewinnen. Während des Schabevorganges, der über den primären Operationszugang erfolgen kann, wird der Knochen sukzessive in einer Kammer gesammelt und mit Blut vermischt (Abb. 2). Die abzuwiegenden potentiellen Nachteile der enoralen Knochenentnahme sind naheliegend: iatrogene Devitalisierung von Zähnen, veränderte faziale Ästhetik, Schäden an Nervstrukturen sowie ein erhöhtes Frakturrisiko [5].
Die extraorale Entnahme
Extraoral lassen sich generell größere Mengen an Material gewinnen. Der Beckenkamm ist eine beliebte Donorregion zur Spongiosaentnahme, als kortikospongiöser Span (Abb. 3) sowie als mikrovaskulär anastomosiertes Transplantat. Die Fibula liefert großvolumige Augmentate, die kombiniert weichgeweblich und knöchern sein können, um auch komplexe Rekonstruktionen durchführen zu können. Weitere Entnahmestellen sind die Schädelkalotte und die Rippe (beide kortikospongiös). Selbstverständlich steigt mit der Größe der Entnahme die Patientenmorbidität an - beispielsweise gemessen durch Schmerzen, Blutergüsse und Instabilität der betroffenen Knochenstrukturen.
Die Augmentation
Generell können Knochenaugmentationen vor der Insertion der Implantate (zweizeitiges Vorgehen) oder zusammen mit den Implantaten (einzeitiges Verfahren) durchgeführt werden. Das zweizeitige Verfahren gewährt dem Transplantat eventuell notwendige Ruhe in der Einheilphase, hat aber gleichzeitig den Nachteil, dass ein weiterer chirurgischer Eingriff benötigt wird. Für den Patienten bedeutet die prolongierte Einheilphase selbstverständlich eine zeitliche Verzögerung, wenn auch in den meisten Fällen mit höherer Erfolgsaussicht. Die Präzision der Implantatpositionierung ist generell beim zweizeitigen Vorgehen höher. Demgegenüber steht die hohe Resorptionsrate autogenen Knochens. Die wichtigsten augmentativen Maßnahmen im Kieferbereich beziehen sich auf die horizontale und vertikale Augmentation - und deren Kombination - sowie die Anhebung des Bodens des Sinus maxillaris (Sinuslift) als Sonderform. Das Ziel der horizontalen Knochenaugmentation ist es, den defizienten Knochen breiter und/oder dicker zu gestalten, um Implantate mit dem entsprechenden Durchmesser (in der Regel > 3,5 mm) einbringen zu können. Die Verwendung von Knochenersatzmaterial zeigte hier im Vergleich zu autogenem Knochen ein (statistisch nicht signifikantes) höheres Risiko, einen Implantatmisserfolg zu erleiden [4]. Bei der vertikalen Augmentation kommt es darauf an, eine ausreichende Knochenhöhe in der vertikalen Dimension zu schaffen, um Implantate mit gebräuchlichen Längen (in der Regel > 9 mm; Abb. 4) inserieren zu können. Die einzelnen dazu benötigten Techniken kommen jeweils diagnoseabhängig zum Einsatz. Sowohl zur vertikalen als auch zur horizontalen Augmentation sind zum Beispiel Auflagerungsosteoplastiken möglich. Hier können avaskuläre Transplante, z. B. Beckenkamm (Abb. 5 und 6) und vaskuläre Transplantate (z. B. aus der Fibula) als Knochenblock an- und aufgelagert werden. Weiterhin existieren Sandwich-Techniken, bei denen periostgestielte Knochendeckel nach horizontal oder auch nach vertikal angehoben werden sowie verschiedene Bone Splitting-Techniken, bei denen ein knöchernes Interponat in einen vertikalen Defekt des Kiefers eingebracht wird, um horizontale Breite zu gewinnen.
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Abb. 4: OPG: atrophierter Unterkiefer kurz vor einer pathologischen Fraktur. Klinisch liegen die beiden Nn. Mentales dem Knochen auf und das Implantat regio 33 ist periimplantär schwer geschädigt. Eine suffiziente Versorgung mit Implantaten einer „normalen“ Länge ist nicht möglich.
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Abb. 5: DVT in der axialen Darstellung: Auflagerungsosteoplastik des Oberkiefers mit nichtvaskularisierten Beckenkammtransplantaten. Das Augmentat wird mit Schrauben am atrophierten Restkiefer befestigt. Nach gleichzeitigem beidseitigen voluminösem Sinuslift mit autogenem Knochen sind die Böden der Kieferhöhlen direkt postoperativ verschattet.
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Abb. 6: Das zum DVT korrespondierende Bild. Zwischen den angepassten und mit Schrauben fixierten Knochenblöcken wird gewonnene Beckenkammspongiosa als Füllmaterial verwendet.
Der (externe) Sinuslift
Bei der Elevation und Auffüllung des Kieferhöhlenbodens im posterioren Seitenzahnbereich handelt es sich um eine zuverlässige Operationsmethode. Klassischerweise wird nach einem vestibulären Schnitt ein Knochenfenster angelegt und der Knochen möglichst ohne Perforation der Kieferhöhlenschleimhaut nach antral eingeklappt. Ein Zusammenhang zwischen Membranperforation und ausgeprägter postoperativer Sinusitis und/oder Implantatverlust konnte allerdings nicht nachgewiesen werden [8]. Der bei der Präparation entstandene Hohlraum kann in Folge mit Knochen (-ersatzmaterial) aufgefüllt werden. In Fällen mit ausreichendem Restknochen (> 4 mm) ist eine simultane Implantation durchaus möglich (Abb. 7). Aufgrund seiner osteokonduktiven, osteoinduktiven und osteogenen Eigenschaften stellte der autogene Knochen auch beim Sinuslift ein beliebtes Material dar [6]. Allerdings sind die klinischen Unterschiede zu synthetischen Materialien oder Kombinationen aus autogenem Knochen und Knochenersatzmaterialien nicht eindeutig. Teilweise scheint die Verwendung von reinen Knochenersatzmaterialien zu schlechteren Ergebnissen zu führen [14]. Die Neigung zur schnellen Resorption des körpereigenen Materials hat keinen Einfluss auf das Implantatüberleben [12].
Alternativen zur autogenen Knochentransplantation
Bei der alternativen Behandlung mit allogenem Knochen, teilweise gewonnen aus Leichenpräparaten oder anfallenden Knochenresten (zum Beispiel Demineralized Bone Matrix), stellen vor allem Probleme bei der Konservierung und Sterilisation, der AB0-Kompatibilität und der Transfektionsgefahr in Bezug auf Hepatitis- und Herpesviren [15] die limitierenden Faktoren dar. Die Distraktionsosteogenese kann in ausgewählten Fällen zur Rekonstruktion verwendet werden [10], wobei deutliche Schwierigkeiten bei scharfen und dünnen Kieferkämmen bestehen.
Weiterhin ist die Distraktion teurer als einfache GBR- und ossäre Augmentationstechniken. Bevorzugt bei umschriebenen Defekten können Knochenersatzmaterialien eingesetzt werden, die wiederum in verschiedenen Untergruppen (z. B. xenogen und alloplastisch-synthetisch) einzustufen sind. Eine Kombination mit autogenen Knochentransplantaten ist in der klinischen Praxis häufig. Dies ist unter anderem darin begründet, dass die kommerziell angebotenen, alloplastischen Knochenersatzmaterialien ausschließlich eine osteokonduktive Leitschienenfunktion und eine Platzhalterfunktion während der Wundheilung besitzen, ohne dass von ihnen eine Heilung ausgeht. Mit Wachstumsfaktoren, wie den BMPs, kovalent beschichtete Knochenersatzmaterialien befinden sich zurzeit in der vorklinischen Erprobungsphase.
Im atrophierten Oberkiefer können statt Knochentransplantaten auch Zygoma-Implantate durch die Kieferhöhle im Jochbein befestigt werden [2]. Allerdings erfordern diese eine gute Planung sowie Erfahrung und Geschick des Operateurs. Mit der Einführung und klinischen Erprobung kurzer (< 9 mm) (Abb. 8) sowie durchmesserreduzierter (< 3 mm) Implantate stellen auch diese eine Alternative zu den augmentativen Maßnahmen dar (Abb. 8). Analog konnte eine Meta-Analyse - bei vielfältigen Einschränkungen des Ergebnisses - feststellen, dass eine vertikale Augmentation im Vergleich zu kurzen Implantaten mit gehäuften Implantatmisserfolgen und Komplikationen assoziiert ist [4]. Allerdings sind Langzeitergebnisse kurzer Implantate noch abzuwarten; eine generelle Empfehlung kann noch nicht gegeben werden.
Zusammenfassung
Die Transplantation von humanem Knochen ist weiterhin bei vielen regenerativen Prozeduren von hoher Wertigkeit. Mit den modernen Knochenersatzmaterialien existieren teilweise Alternativen, ein Material, das signifikant besser wäre, ist nicht verfügbar [9]. Da das Knochentransplantat eine ausreichende Vaskularisation sowie eine initiale Immobilisation und Schonung in gesundem Gewebe in der Umgebung benötigt, sind Infektionen und lokale pathologische Prozesse Kontraindikationen einer Augmentation. Relative Kontraindikationen sind Erkrankungen, die den Knochenmetabolismus beeinträchtigen, ein schlecht eingestellter Diabetes mellitus, eine im Vorab durchgeführte Bestrahlung des zu augmentierenden Gebietes sowie die anamnestische Einnahme von Medikamenten wie Bisphosphonate.
Ein vollständiger und spannungsfreier Wundverschluss ist notwendig. Insgesamt sind vielfältige Entnahme- und Augmentationsmöglichkeiten und deren jeweilige Kombinationen denkbar, eine klare Empfehlung, welche Augmentationsarten bei welchen Indikationen optimal sind, existiert derzeit nicht [4, 9]. Dies unterstreicht die Wichtigkeit, den jeweiligen Patienten individuell zu beraten und zu behandeln. Vor- und Nachteile der gewählten Prozeduren müssen sorgfältig abgewogen werden und eine ausführliche prothetische Planung ist essentiell vor jeder augmentativen Maßnahme.
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