Schmerzausschaltung vor chirurgischen Eingriffen

Vor einem chirurgischen Eingriff, einer Extraktion oder Osteomie sind mit dem Patienten die Risiken und die Alternativen verschiedener Anästhesiemethoden zu besprechen. Denn nur dann kann der Patient entscheiden, ob seine Behandlung unter Leitungs- respektive Infiltrationsanästhesie oder unter intraligamentärer Anästhesie erfolgen soll.
Injektionssysteme ohne integrierte mehrstufige Hebelsysteme ermöglichen eine minimalinvasive Anpassung des vom Behandler aufzubauenden Injektionsdrucks an die individuellen Gegebenheiten des Patienten – zur Überwindung des interstitiellen Gegendruckes. Die intraligamentäre Anästhesie erfüllt alle Anforderungen an eine minimalinvasive und wirkungsvolle Lokalanästhesie auch von Reihenextraktionen und Osteotomien retinierter Weisheitszähne.
Einleitung
Im Rahmen einer klinischen Observationsstudie in wissenschaftlicher Begleitung der Ludwig-Maximilians-Universität München, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, war die Frage zu beantworten, ob die intraligamentäre Anästhesie (ILA) als primäre Methode der Lokalanästhesie alle Anforderungen an eine weitgehend vollständige und patientenschonende zahnärztliche Lokalanästhesiemethode erfüllen kann [11, 12]. Dies geschah vor dem Hintergrund der juristisch erforderlichen Thematisierung mit dem Patienten der Risiken und der Alternativen, insbesondere auch der angezeigten Lokalanästhesie.
Es lag ausschließlich in der Entscheidung der Patienten, ob die Behandlung unter Leitungs- respektive Infiltrations- oder intraligamentärer Anästhesie erfolgte. Die dokumentierten und ausgewerteten Ergebnisse zeigen, dass die ILA mit Blick auf Anästhesieerfolg, Latenzzeit, Anästhetikamenge, Dauer der Anästhesie, generierte Effekte und Beurteilung durch die Patienten die Anforderungen an eine primäre Methode der zahnärztlichen Lokalanästhesie – auch vor angezeigten dental-chirurgischen Maßnahmen – weitgehend erfüllt.
Material und Methode
Ziel der definierten Studie war die praktische Anwendung/Umsetzung der von den Patienten gewünschten Methode der Schmerzausschaltung, primär der intraligamentären Anästhesie.
Für intraligamentale Injektionen stehen heute mechanische Spritzensysteme ohne integrierte mehrstufige Hebelsysteme zur Verfügung, mit denen der Anwender den bei der Applikation des Anästhetikums zu überwindenden interstitiellen Gegendruck direkt in seinem Daumen (oder Zeigefinger) spürt (Abb. 1). Dieses „Feed-back“ ermöglicht es ihm, den eigenen Injektionsdruck sensibel an die individuellen anatomischen Gegebenheiten des Patienten anzupassen.
Zahlreiche klinische Studien wurden in den letzten 25 Jahren durchgeführt, um die praktische Anwendung der intraligamentären Anästhesie sicher reproduzierbar zu machen.
Die Ergebnisse wurden international publiziert und stehen als Vergleichswerte zur Leitungs- und Infiltrationsanästhesie zur Verfügung [2,5,6,8-10,12,14,16-18].
Im Rahmen der definierten Studie wurde die Hypothese aufgestellt, dass es mittels intraligamentaler Injektionen möglich ist, eine sichere Schmerzausschaltung auch vor indizierten dento-alveolären chirurgischen Maßnahmen, z.B. Extraktionen und Osteotomien, zu erreichen.
Als Anästhetikum wurde in allen Fällen dieselbe – seit mehr als 40 Jahren bewährte – Substanz appliziert, die auch für die Leitungsund die Infiltrationsanästhesie zur Anwendung kommt: 4%-ige Articainhydrochlorid- Lösung mit Adrenalin 1:200.000.
Lege artis wird die Kanüle intraligamental in Kontakt mit dem zu extrahierenden Zahn – bzw. der zu osteotomierenden Substanz – in den Desmodontalspalt geführt, bis Knochenkontakt spürbar wird (Abb. 2), etwa 2 bis 3 mm. Bei der Vorwärtsdrehung des Dosierrades (Abb. 1 und 3) spürt der Behandler unverzüglich in seinem Daumen den interstitiellen Gegendruck, der durch minimalinvasiven eigenen Druck zu überwinden ist, damit das Anästhetikum ins Desmodontalgewebe und den Alveolarknochen diffundieren kann: Das applizierte Anästhetikum wird resorbiert und löst unverzüglich – ohne Latenz – die gewünschte anästhetische Wirkung aus. Die intraligamentäre Anästhesie ist tief ausgeprägt und eng begrenzt.
-
Abb. 2: Die Kanülenspitze wird entlang des Zahnhalses in den Desmodontalspalt geführt ? bis Knochenkontakt spürbar ist, etwa 2 bis 3 mm.
-
Abb. 3: Mittels des Dosierrads kann Druck auf- und abgebaut werden.
Ergebnisse
Die intraligamentalen Injektionen wurden mit mechanischen Dosierradspritzen – ohne mehrstufige integrierte Hebelsysteme zur Kraftverstärkung – durchgeführt (Stand der Technik seit 2000) [17]. In allen Fällen wurde mit den Patienten vor der angezeigten Behandlung auch die Frage thematisiert, ob die Behandlung unter Schmerzausschaltung erfolgen sollte und welche Methode ggf. anzuwenden sei.
Extraktionen einzelner Zähne sind die älteste publizierte Indikation für die intraligamentäre Anästhesie [3, 4]. Für diese Anwendung wird die ILA uneingeschränkt empfohlen [15]. Im Dokumentationszeitraum wurden in 29 Behandlungen insgesamt 37 Extraktionen bzw. Osteotomien durchgeführt, davon 29 unter intraligamentärer und – auf Wunsch der Patienten – acht unter Infiltrationsanästhesie (Tabelle. 1).
Bei einer anstehenden Reihenextraktion im Unterkiefer (Zähne 34- 37) wurden alle vier Zähne sukzessive intraligamental anästhesiert. Alle vier Zähne konnten schmerzfrei extrahiert werden. Die applizierte Anästhetikummenge betrug 0,9 ml.
Beim Patienten 4821 erfolgte die Extraktion von drei Zähnen in drei Quadranten (Zähne 27, 32, 42) unter ILA. Die Lokalanästhesie verursachte keinerlei Beeinträchtigungen.
Alle vier retinierten Weisheitszähne konnten beim Patienten 6121 in einer Sitzung komplikationslos entfernt werden. Dazu wurde – unter Verwendung der Dosierradspritze – initial Anästhetikum subgingival appliziert, um durch Aufklappung Zugang zum jeweiligen Zahn zu erhalten. Sodann wurde im Kontakt mit dem Zahn je etwa 0,5 ml Anästhetikum intraligamental injiziert. Für die vier zu extrahierenden Zähne wurden insgesamt 3,9 ml Anästhetikum appliziert. Nach Aussage der Patientin nach Abschluss der Behandlung war die Beeinträchtigung gering.
Von den weiteren angezeigten vier Osteotomien konnten – in Abstimmung mit den Patienten – drei unter ILA durchgeführt werden, d. h. das Anästhetikum wurde in direktem Kontakt mit dem freigelegten Zahn appliziert; bei der 4. Osteotomie (Ost 2) wurde diese auf Wunsch des Patienten unter konventioneller Infiltrationsanästhesie durchgeführt.
Fallbeschreibung
Von prioritärer Bedeutung ist die intraligamentäre Anästhesie bei der Behandlung von Phobie-Patienten. Aktuell beschreiben Adubae et al. (2016) – Uni Rostock – den Fall einer Patientin mit ausgeprägter Zahnarztphobie. Die klinische und die radiologische Untersuchung zeigten einen desolaten Gebisszustand. In Zusammenarbeit mit den Kollegen der konservierenden und der prothetischen Abteilung wurde die Indikation zur Extraktion von multiplen Zähnen im Ober- und im Unterkiefer, zu einer konservierenden Behandlung der zu erhaltenden Restzähne, zur Verbesserung der Mundhygiene/Patientenmotivation sowie schlussendlich zu einer prothetischen Versorgung gestellt [1].
Aufgrund der manifesten Angststörung und des Therapieumfangs wurde die initiale chirurgische Sanierung unter Intubationsnarkose geplant; die Patientin bat nach Aufklärung über ein bestehendes erhöhtes Narkoserisiko um Behandlung in lokaler Betäubung.
Die erste Behandlung – Entfernung der Wurzelreste 27 und 28 – musste wegen einer Panikattacke frühzeitig abgebrochen werden. Die Patientin lehnte alle weiteren Versuche der Extraktion unter lokaler konventioneller Anästhesie ab.
Drei Monate später stellte sich die Patientin mit akuten Schmerzen und multiplen submukösen Abszessen im Ober- und im Unterkiefer erneut vor. Nach weiteren intensiven Gesprächen mit der Patientin wurde ein erneuter Versuch der Sanierung in Intubationsnarkose unternommen. Dieser fand jedoch mit der Flucht der Patientin vom OP-Tisch kurz vor der Narkoseeinleitung ein jähes Ende.
Mitte 2015 wurde die Patientin erneut mit akuten Schmerzen vorstellig. Nach mehreren psychologisch betreuten Beratungsgesprächen wurde ein finaler Behandlungsversuch unternommen. Als Anästhesieform wurde die „intraligamentäre Anästhesie“ gewählt, die sich als eine gute und verlässliche Alternative zur Leitungs- und Infiltrationsanästhesie bei der Zahnextraktion bewährt hat. Als Lokalanästhetikum wurde eine vierprozentige Articain-Lösung mit Adrenalinzusatz 1:200.000 appliziert. Die Extraktion der Zähne erfolgte quadrantenweise. Innerhalb von 3 Wochen konnten alle nicht erhaltungswürdigen, insgesamt 25 Zähne entfernt werden [1].
Speziell die schmerzlose Injektion des Lokalanästhetikums, die zeitliche und räumliche Begrenzung der lokalen Anästhesie und die schmerzlose Extraktion der Zähne unter intraligamentärer Anästhesie wurden von der Patientin als sehr positiv bewertet. Während und nach der Behandlung konnten keine lokalen beziehungsweise systemischen Komplikationen beobachtet werden [1].
Die aufgestellte Hypothese, dass es mittels intraligamentaler Injektionen möglich ist, eine sichere Schmerzausschaltung auch vor indizierten dento-alveolären chirurgischen Maßnahmen, z.B. Extraktionen und Osteotomien, zu erreichen, konnte bestätigt werden.
Diskussion
Da die bei der intraligamentären Anästhesie (ILA) applizierten Lokalanästhetikum-Mengen deutlich geringer sind als die bei den konventionellen Lokalanästhesie-Methoden – ~25 % – gibt es hinsichtlich der verwendeten Anästhetika keine Einschränkung für die Anwendung im Rahmen der ILA; infolge der geringen Dosierung können auch Lösungen mit hohem Adrenalinzusatz verwendet werden, schrieben Heizmann und Gabka schon 1994 [9].
Die sowohl von Langbein et al. (2012) und auch von Adubae et al. (2016) dokumentierten Fälle von Extraktionen und Osteotomien unter intraligamentärer Anästhesie zeigen, dass die ILA eine minimalinvasive, komplikations- und schmerzarme Alternative zu den nach wie vor weltweit gelehrten und angewandten konventionellen Methoden der Lokalanästhesie – Infiltrations- und Leitungsanästhesie – ist. Mit Blick auf die Schmerzausschaltung vor indizierten Extraktionen und/oder Osteotomien ist sie als primäre Methode der Schmerzausschaltung mit dem Patienten zu thematisieren. Bei einer Umstellung der Leitungs- und der Infiltrationsanästhesie auf die „primäre Lokalanästhesie-Methode ILA“ profitiert vor allem der Behandler: Stark reduzierter Aufklärungsaufwand über die Risiken der konventionellen Methoden, deutlich geringere Anästhesieversagerrate, sofortige Überprüfung des Anästhesieeintritts, keine zu überbrückende Latenzzeit, kein Risiko von Gefäß- und/oder Nervkontakten/-läsionen bei der Insertion der Kanüle. Vom Patienten wird vor allem die geringere Belastung durch die Injektion, die Betäubungsausbreitung und -dauer sehr geschätzt: Die lokale Betäubung ist nur sehr eng auf den Therapieraum begrenzt und endet kurze Zeit nach Ende der Behandlung.
Bei einer „im Kopf beschlossenen“ Kompensation der Leitungs- und der Infiltrationsanästhesie durch die intraligamentäre Anästhesie ist es erforderlich, dass die behandelnde Zahnärztin/der behandelnde Zahnarzt sich mit dem „Stand 2018“ von Wissenschaft, Technik und Klinik der intraligamentären Anästhesie vertraut macht. Erforderlich ist weiterhin, dass die notwendige Hardware verfügbar ist – ein Injektionssystem, das dem Stand der Technik 2018 entspricht, z.B. Dosierradspritzen und systemadaptierte Kanülen. Mit diesem Injektionssystem ist es gut möglich, den bei der intraligamentalen Injektionen zu überwindenden interstitiellen Gegendruck direkt in seinem Daumen zu spüren und den eigenen Injektionsdruck minimalinvasiv an die individuelle Situation des Patienten anzupassen.
Da das intraligamental injizierte Anästhetikum ins Desmodont diffundieren muss, um sich entlang der Zahnwurzel und intraossär auszubreiten, ist es sehr langsam anzudienen. Auf diese Weise wird es von dem sehr dichten, zahnumgebenden Gewebe sukzessive resorbiert (Abb. 4) und breitet sich intraossär aus. In etwa 25 bis 30 Sekunden hat es das Foramen apikale erreicht; der Anästhesieeffekt tritt ein ? ohne Latenz.
Schlussfolgerung
Die intraligamentäre Anästhesie (ILA) kann bei fast allen zahnärztlichen Maßnahmen als primäre Methode der Schmerzausschaltung angewandt werden und ist den beiden konventionellen Lokalanästhesiemethoden Infiltrations- und Leitungsanästhesie hinsichtlich breiter Anwendbarkeit, Anästhesieerfolg, ausreichender Anästhesiedauer und geringer erforderlicher Anästhetikummengen zur Erreichung der Schmerzfreiheit mindestens vergleichbar, bietet aber für den Behandler und den Patienten deutliche Vorteile.
Die ILA ist eine sichere und zuverlässige Methode der Lokalanästhesie, die praktisch zu keinen unerwünschten Effekten führt, wenn die Methode vom Behandler sicher beherrscht wird, adäquate Instrumentarien angewandt und bewährte Anästhetika mit Adrenalin appliziert werden.
Die Addition von Adrenalin zur Lokalanästhetikum-Lösung verdoppelte den Anästhesieerfolg, ohne eine Erhöhung postoperativen Unbehagens oder Komplikationen. Es wird daher empfohlen, bei der Anwendung der intraligamentären Anästhesie eine Anästhetikumlösung mit Adrenalin zu wählen [7].
Die intraligamentäre Anästhesie ist als eine primäre Methode der zahnärztlichen Lokalanästhesie einzustufen. Mit den Dosierradspritzen steht ein Instrumentarium zur Verfügung, das es dem Zahnarzt ermöglicht, unter präzise zu kontrollierenden Bedingungen schonend, sicher und weitgehend ohne Anästhesieversager für nahezu alle zahnärztlichen Behandlungen eine ausreichende Schmerzausschaltung zu erreichen, ausgenommen lang dauernde und großflächige dento-alveoläre chirurgische Maßnahmen, bei denen die ILA die Anforderungen nur bedingt erfüllen kann [8].
Bei lang dauernden und großflächigen dento-alveolären chirurgischen Eingriffen empfiehlt sich die primäre Anwendung der Infiltrations- oder der Leitungsanästhesie; bei Fällen profunder Parodontitis sind intraligamentale Injektionen nur bedingt möglich, was jedoch nicht zum Ausschluss der ILA für die systematische Behandlung von Parodontopathien (geschlossenes Vorgehen) führt [13].
Die Ergebnisse der Langbein-Studie bestätigen die Hypothese, dass es möglich ist – bei Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und des medizintechnischen Fortschritts der letzten 30 Jahre – weitgehend alle Maßnahmen der Zahnerhaltung und auch alle Zahnextraktionen und Osteotomien unter ILA durchzuführen [11].
Die juristisch vorgegebene Thematisierung mit dem Patienten der Risiken, auch der angezeigten Lokalanästhesie und deren Alternativen, kann bei einer intraligamentären Anästhesie (ILA) minimiert werden: Die ILA erfüllt alle Anforderungen an eine weitgehend vollständige und patientenschonende zahnärztliche Lokalanästhesiemethode ohne das Risiko eines Nerv- und/oder Gefäßkontakts und/oder einer Läsion. Mit Blick auf die Risiken und die methodenimmanenten Einschränkungen für den Patienten sollten die konventionellen Lokalanästhesiemethoden nur noch angewandt werden, wenn die intraligamentäre Anästhesie nicht indiziert ist oder diese nicht zum Erfolg geführt hat.