Sichere Differentialdiagnose unklarer pulpitischer Beschwerden

Im Rahmen einer Vergleichsstudie zur klinischen Eignung verschiedener Spritzensysteme für intraligamentale Injektionen präsentierten sich während des Studienzeitraums wiederholt auch Patienten mit nicht eindeutig zu lokalisierender Schmerzursache. Die Ursache der irradiierenden Schmerzen konnte mit den konventionellen Methoden Radiographie, Perkussion und Kälte-/Wärme-Test nicht diagnostiziert werden. Wegen der starken Schmerzen der Patienten waren adäquate Maßnahmen angezeigt.
Akute, pulpitisch verursachte Schmerzen sind für den Patienten meistens äußerst unangenehm. Der Schmerz ist nicht präzise zu lokalisieren, vielfach strahlt er nicht nur auf benachbarte Zähne sondern sogar auf den gegenüberliegenden Kiefer aus. Der Patient erwartet vom Behandler eine Befreiung von seinen meist starken Schmerzen. Die Möglichkeiten des Zahnarztes in der akuten Situation den Zahn, der den Schmerz verursacht, präzise zu lokalisieren und eine Substanz erhaltende Behandlung einzuleiten, halten sich in engen Grenzen. Die klassischen Methoden der Perkussion und des Kälte-/Wärme-Tests versagen meistens, da die ausstrahlende Entzündung der Pulpa jede genaue Zuordnung der Schmerzen zu einem bestimmten Zahn unmöglich macht.
Die Schmerzen des Patienten medikamentös zu relativieren bis die akute Entzündung soweit abgeklungen ist, dass eine präzise Diagnose möglich wird, erfordert einen hohen Beratungsaufwand, ist vielfach aber die einzige Möglichkeit – im Interesse des Patienten – mit Blick auf die Erhaltung des betroffenen Zahnes.
Die Einzelzahnanästhesie durch intraligamentale Injektion von Lokalanästhetikum führt zur gezielten Ausschaltung des Schmerzempfindens eines definierten Zahnes. Die Möglichkeiten und Grenzen der intraligamentären Anästhesie sind in den letzten Jahren systematisch erforscht, umfassend beschrieben und publiziert worden [1, 2, 4, 7-11, 14, 17, 18]. Vereinzelte Publikationen beschreiben, dass es möglich ist, durch eine gezielte intraligamentäre Anästhesie präzise den Zahn herauszufinden, der die irradiierenden Schmerzen verursacht und eine Zahn erhaltende Therapie einzuleiten [3, 13, 15]. Für den Behandler ist die intraligamentäre Anästhesie (IL-A) eine sichere Methode der Schmerzausschaltung eines einzelnen Zahnes, mit der er seit Jahren vertraut ist [18].
Im Rahmen einer evidenzbasierten Studie zur klinischen Anwendung moderner Spritzensysteme für intraligamentale Injektionen wurden alle in einem Zeitraum von drei Monaten (= 60 Arbeitstage) vorkommenden Fälle von irradiierenden pulpitischen Schmerzen – nach sorgfältiger Anamnese und Aufklärung des Patienten über das geplante Vorgehen – einer Differentialdiagnose mittels intraligamentärer Anästhesie unterzogen. Die Ergebnisse wurden auf standardisierten Erfassungsbögen dokumentiert.
Als Anästhetikum wurde die allgemein übliche 4 %-ige Articainhydrochlorid-Lösung mit Adrenalin 1:200000 (z. B. Ultracain D-S) appliziert.
Für die Applikation des Anästhetikums kamen handelsübliche DIN-normierte Dosierrad-Spritzen vom Typ SoftJect zur Anwendung. Dabei handelt es sich um spezielle Spritzensysteme für intraligamentale Injektionen ohne zwischengelagerte Hebel. Kraftaufbau und -übertragung erfolgen bei diesem Injektionssystem über ein Dosierrad auf eine Zahnstange – ohne ein integriertes mehrstufiges Hebelsystem. Dadurch ist der Behandler in der Lage, eine direkte – ausschließlich durch sein Gefühl gesteuerte – Injektion durchzuführen und diese dem interstitiellen Gegendruck gut anzupassen. Zur Injektion wurden systemadaptierte Kanülen 0,3/13 mm mit extrakurzem Anschliff und hoher Steifigkeit definiert. So genannte Pistolensspritzen und auch Dosierhebelspritzen wurden nicht verwendet, um ungewünschte Nebenwirkungen wie Druckschmerz, Elongationsgefühl nach Abklingen der Anästhesie oder Drucknekrosen weitgehend auszuschließen.
Gemäß dem Stand der Zahnheilkunde [7, 8] wurden pro Zahnwurzel etwa 0,2 ml Anästhesielösung in > 20 Sekunden injiziert.
Ergebnisse
Im Laufe von drei Monaten wurden alle Patienten, die sich mit akuten, offensichtlich pulpitischen Schmerzen ? deren Ursache unklar war ? nach zweifelsfreier Feststellung des Schmerzen verursachenden Zahnes erfolgreich Zahn erhaltend behandelt.
Die Differentialdiagnose erfolgte in allen Fällen im Zustand der akuten Entzündung ? unter definierten und kontrollierten Bedingungen ? durch sukzessive intraligamentale Injektion von Anästhetikum. Das Vorgehen und die Ergebnisse wurden vollständig dokumentiert (siehe Tabelle 1).
Unter Bezug auf Littner et al. (1983) und Simon et al. (1982) [13, 15] haben Dirnbacher et al. (2002) das Vorgehen bei angezeigter Differentialdiagnose präzise beschrieben [3]: Nacheinander wurden im dritten Quadranten die Zähne 35, 36 und 37 mittels intraligamentärer Anästhesie anästhesiert. Nach Ausschaltung des Empfindungsvermögens bei den beiden erstgenannten Zähnen war der vom Patienten empfundene Schmerz unvermindert vorhanden. Nach Anästhesie auch des dritten der in Betracht kommenden Zähne, war der Schmerz vollständig verschwunden. Die Quelle der Schmerzauslösung war damit unzweifelhaft gefunden.
Bei zweiwurzeligen Zähnen erfolgte je eine mesiale und eine distale Injektion, wobei die Zeit für die zweite Injektion in der Tendenz länger war (> 20 Sek.). Bei dreiwurzeligen Zähnen erfolgte die dritte Injektion in die Furkation noch langsamer (> 25 Sek.), um dem Zahn umgebenden Gewebe ausreichend Zeit zu geben, das Anästhetikum zu resorbieren und damit ungewünschten Effekten, zum Beispiel Elongationsgefühl oder Druckschmerz nach Abklingen der Anästhesie, vorzubeugen.
Die Kanülenspitze wurde entlang des Zahnhasels in einem Winkel von ca. 30 Grad etwa 1 bis 2 mm max. 3 mm in den Sulcus eingeführt, bis sie festen Halt gefunden hatte. Danach wurde, behutsam ? nicht mit Gewalt ? durch langsame Injektion der Gegendruck des Parodontalgewebes überwunden.
Bei der gesamten Dauer der Injektion muss ein deutlicher Gegendruck spürbar sein, der durch eigenen, gefühlvollen Druck zu überwinden ist. Der vom Behandler aufzubauende Druck ist umso geringer, je länger die Injektionszeit ist. Er ist von Zahn zu Zahn unterschiedlich [5, 16].
Durch konventionelle Diagnostik ? Kälte-/Wärme- und Perkussions- Test ? konnte keine sichere Diagnose gestellt werden. In allen dokumentierten Fällen wurde das gleiche Verfahren der IL-A angewandt. Die für die Differentialdiagnose aufgebaute intraligamentäre Anästhesie war ausreichend, um auch alle sich anschließenden therapeutischen Maßnahmen durchzuführen.
Die unter der erreichten intraligamentären Anästhesie durchgeführten therapeutischen Maßnahmen stellten sicher, dass der Zahn in allen Fällen erhalten werden konnte. Nach Ende der Behandlungen wurde von einem Patienten ein Taubheitsgefühl angegeben, in den anderen Fällen wurden keine Beeinträchtigungen mitgeteilt. Die Dispositionsfähigkeit der Patienten nach Abschluss der Behandlung war in keinem Falle eingeschränkt. Bei einer Inspektion nach 2 bis 5 Tagen wurden von den Patienten in keinem Fall ungewünschte Effekte (Druckschmerz, Vorkontakt oder Elongationsgefühl) empfunden.
Diskussion
Zur Überwindung des Gewebswiderstandes bei der intraligamentalen Injektion ist ein Kraft verstärkendes Spritzensystem hilfreich. Pistolenspritzen ? auch mit Druckbegrenzung ? sollten für Injektionen vor Zahn erhaltenden Maßnahmen und auch zur Differentialdiagnose nicht eingesetzt werden, weil der Behandler die anatomischen Gegebenheiten des Patienten bei diesen Injektionssystemen nicht direkt spüren kann. Bei Dosierhebel-Spritzen, z. B. Citoject oder Paroject, ist vom Behandler eine sehr hohe Sensibilität bei der Applikation des Anästhetikums erforderlich, da das Hebelsystem dieser Instrumente (Dosierhebel) den direkten Kontakt zur Anatomie des Patienten deutlich reduziert. Bei Dosierradspritzen ist dieser Kontakt uneingeschränkt möglich.
Grundsätzlich erfolgt die Einzelzahn-Schmerzausschaltung bei nahezu allen Patienten problemlos; in zwei Fällen wurde auf Befragen von leichtem Injektionsschmerz berichtet. Alle Zähne sind praktisch ohne Latenzzeit tief anästhesiert, sodass der Behandlungsbeginn sofort nach Abschluss der intraligamentalen Injektion erfolgen kann.
Die therapeutischen Maßnahmen, endodontische Behandlungen und Füllungstherapie, die sich der Differentaldiagnose anschlossen, wurden im Rahmen des üblichen Behandlungskonzeptes durchgeführt. Sie verliefen problemlos.
In allen dokumentierten Fällen erwiesen sich die Anästhesietiefe und -dauer als ausreichend für die durchgeführten therapeutischen Maßnahmen. Erforderlichenfalls hätte problemlos nachanästhesiert werden können, was selbst bei Behandlung unter Kofferdam uneingeschränkt möglich ist [4, 17] (Abb. 1). Die Ergebnisse zeigen, dass die intraligamentäre Einzelzahn- Anästhesie ? durchgeführt unter den definierten Bedingungen ? dem Behandler eine sichere Möglichkeit bei der Diagnose unklarer pulpitischer Beschwerden gibt und keine ungewünschten Effekte verursacht.
Damit im Unterkiefer die Diagnostik nicht durch eine denkbare Nervblockade verfälscht wird, empfiehlt es sich, die Injektionen zur Differentialdiagnose von mesial nach distal durchzuführen.
Zu präzisieren ist, dass bei endokarditisgefährdeten Patienten besondere Vorsicht gilt, da bei der intraligamentären Anästhesie das Risiko einer Bakteriämie nicht auszuschließen ist. In diesen Fällen kann eine Absiedlung von Bakterien aus dem Blut zu ernsthaften Komplikationen für den Patienten führen. Insbesondere sind invasive Eingriffe unter Antibiotikaschutz vorzunehmen. Diese Vorsichtsmaßnahme ist jedoch nicht nur bei einer IL-A sondern auch bei anderen Manipulationen am Zahnfleischsulcus, z. B. Zahnsteinentfernungen, einzuhalten [6].
Die durchgeführte Differentialdiagnose mit der Dosierradspritze SoftJect war sehr überzeugend, eigentlich sogar großartig. Bei Anlage der Studie haben wir nicht geglaubt, ein so ausgezeichnetes sensibles Instrumentarium zur Verfügung zu haben. Mit dem ILA-Injektionssystem der 3. Generation ? handelsübliche Dosierrad-Spritze SoftJect und systemadaptierte Kanüle ? steht ein Spritzensystem zur Verfügung, das es dem Zahnmediziner ermöglicht, unter präzise zu kontrollierenden Bedingungen schonend, sicher und fast vollständig ohne Anästhesieversager für nahezu alle zahnärztlichen Behandlungen ausreichende Schmerzausschaltung zu erreichen [7]. Zu präzisieren ist jedoch, dass es unabdingbar ist, sich mit der Methode der intraligamentären Anästhesie gut vertraut zu machen, weil es für einen Behandler mit normaler Lokalanästhesie-Erfahrung (Leitungs- und Infiltrationsanästhesie) einer Zeit der Gewöhnung
- auch mit Anästhesieversagern
- bedarf, bevor man die Injektion in den Desmodontalspalt
- gegen den Widerstand des dichten Desmodontalgewebes
- sicher beherrscht [12].
Zusammenfassung
Die in der Literatur angesprochene Methode der Differentialdiagnose zur Feststellung des die pulpitischen Schmerzen verursachenden Zahnes wurde in allen Fällen angewandt und dokumentiert. Dabei erwies sich die Dosierradspritze SoftJect als sehr sensibles Instrumentarium für eine absolut zuverlässige Differentialdiagnose. Der jeweils die ausstrahlenden pulpitischen Schmerzen verursachende Zahn wurde in allen Fällen zweifelsfrei festgestellt und angemessene therapeutische Maßnahmen wurden eingeleitet. Alle betroffenen Zähne konnten erhalten werden. Die Gesamtzahl von 6 Fällen ist zwar gering, die Erfolgsquote von 100 % kann aber als evidenzgestützt angesehen werden.
DENT IMPLANTOL (19)5 2015, S. 344–347
Dr. med. Walter Zugal / Lothar Taubenheim
Sichere Differentialdiagnose unklarer pulpitischer Beschwerden
[1] Csides M, Taubenheim L, Glockmann E. Intraligamentäre Anästhesie – Systembedingte Nebenwirkungen. ZWR Deutsch Zahnärztebl 2009; 118 (4): 158-166.
[2] Csides M, Taubenheim L, Glockmann E. Intraligamentäre Anästhesie: Grenzen und Komplikationen. Dtsch Zahnärztl Z 2011; 66 (8): 561-569.
[3] Dirnbacher T, Taubenheim L, Will J. Differential-Diagnose unklarer pulpitischer Beschwerden. Wehrmed Mschr 2002; 46 Heft 2-3: 56-57.
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[5] Dirnbacher T, Schulz D, Taubenheim L. Die intraligamentäre Injektion – interstitiellen Widerstand adäquat überwinden. Dtsch Zahnärztl Z 2013; (68) 12: 737-742.
[6] Frenkel G. Möglichkeiten und Grenzen der intraligamentären Anästhesie. In: Zahnärztliche Lokalanästhesie heute. Zwei Jahrzehnte Articain. Aktuelles Wissen Hoechst 65-71 (1989).
[7] Glockmann E, Taubenheim L. Die intraligamentäre Anästhesie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart - New York (2002)
[8] Glockmann E, Taubenheim L. Minimalinvasive Schmerzausschaltung - Intraligamentäre Anästhesie. Zahnärztlicher Fach-Verlag, Herne (2010).
[9] Glockmann E, Dirnbacher T, Taubenheim L. Die intraligamentäre Anästhesie - Alternative zur konventionellen Lokalanästhesie? Quintessenz 2005; 3: 207-215.
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[12] Leteur R. Lettre d'un praticien. Informations dentaires 1994; 6: 484.
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[18] Zugal W. Die intraligamentäre Anästhesie in der zahnärztlichen Praxis. Zahnärztl Mitt 2001; 91: 46-52.