Dentalhygieniker/-innen als Spezialisten für zahnmedizinische Prävention bei Risikogruppen
Die Bedeutung von Dentalhygienikern/-innen (DH) in der zahnärztlichen Praxis ist heute unbestritten. Insbesondere die Versorgung von parodontal erkrankten Patienten ist aufgrund der hohen Prävalenz der Parodontitis und der Notwendigkeit einer lebenslangen Weiterbetreuung im Rahmen der Erhaltungstherapie ohne Unterstützung durch DH nicht denkbar.
Jedoch bedeutet dentalhygienische Tätigkeit mehr als die Durchführung von delegierbaren Maßnahmen in der Praxis. Als Spezialisten für zahnmedizinische Prävention sind Dentalhygieniker/-innen in der Lage, Prophylaxekonzepte für Patienten/-innen mit erhöhtem Risiko für orale Erkrankungen zu entwickeln, diese bei der Zielgruppe direkt umzusetzen und somit zur Bewältigung der aktuellen gesundheitspolitischen Herausforderungen beizutragen.
Die Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention
Im Jahr 2009 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention von Deutschland ratifiziert und ist seitdem rechtlich bindend. Die Konvention schreibt Menschen mit körperlichen und/oder kognitiven Einschränkungen das Recht auf vollständige Teilhabe in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen zu, wozu auch die Gesundheitsfürsorge gehört. So garantiert Artikel 25 der Konvention das Recht auf "das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung." Angehörige von Gesundheitsberufen sind demnach verpflichtet, Betroffenen eine Versorgung von gleicher Qualität wie nicht behinderten Menschen zukommen zu lassen. Diese Verpflichtung schließt Maßnahmen zur Prophylaxe und Früherkennung oraler Erkrankungen ein [1].
Die Umsetzung der Forderungen, die sich aus der Ratifizierung der UN-Konvention ergeben, stellt für zahnmedizinische Behandler/-innen eine große Herausforderung dar. So weisen Patienten/-innen mit Behinderung oftmals einen erhöhten zahnmedizinischen Betreuungsaufwand auf. Häufig lassen die kognitiven oder motorischen Einschränkungen der Betroffenen eine selbstständige Mundhygiene nicht zu. Da Mikroorganismen aus der dentalen Plaque den Hauptrisikofaktor für die Entstehung von Karies, Gingivitis und Parodontitis darstellen, ist eine Unterstützung bei der häuslichen Mundhygiene zur Verhütung von Mundhöhlenerkrankungen erforderlich. Gerade Menschen mit schweren Behinderungen können zudem eine/n Zahnarzt/-ärztin nicht selbstständig und oft nur mit einem erhöhten Aufwand aufsuchen, so dass es nicht verwundert, dass Behinderte in allen Altersgruppen eine schlechtere orale Gesundheit aufweisen als Menschen ohne Behinderung [3]. Zur Wiederherstellung der Mundgesundheit behinderter Patienten/-innen sind dann umfangreiche zahnärztliche Maßnahmen erforderlich, die häufig in Intubationsnarkose durchgeführt werden müssen. Der resultierende hohe logistische und zeitliche Aufwand für die Gebisssanierung birgt nicht nur ein größeres medizinisches Risiko für die Patienten/-innen, sondern belastet auch das Gesundheitssystem überproportional.
Diesen Beobachtungen Rechnung tragend wurde im Jahr 2015 das Gesetz zur Verhütung von Zahnerkrankungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung (§ 22a SGB V) verabschiedet, welches am 01.07.2018 in Kraft treten wird. Demnach haben gesetzlich versicherte Angehörige der genannten Personengruppen zweimal jährlich Anspruch auf die Durchführung zahnmedizinischer Prophylaxemaßnahmen in ihrer häuslichen Umgebung. Die Leistungen beinhalten die Erhebung eines Mundgesundheitsstatus, eine Aufklärung über die Bedeutung der Mundhygiene und ihre praktische Umsetzung, die Erstellung eines Planes zur individuellen Mund- und Prothesenpflege sowie die einmal jährliche Entfernung von Zahnstein.
Diese Leistungen können gemäß Delegationsrahmen nahezu vollständig von entsprechend qualifizierten Dentalhygienikern/-innen ausgeführt werden. Ihr regelmäßiger Einsatz in Pflegeeinrichtungen oder im häuslichen Umfeld behinderter Menschen wäre eine medizinisch und ökonomisch sinnvolle Möglichkeit, den gesetzlichen Forderungen Genüge zu leisten und die Mundgesundheit von Behinderten zu verbessern, ohne durch ausgedehnte Praxisschließzeiten die zahnmedizinische Versorgung der übrigen Patienten oder den wirtschaftlichen Erfolg der Zahnarztpraxis zu gefährden.
Die Migration von Flüchtlingen
Aufgrund der sogenannten Flüchtlingskrise sind in Deutschland nach letzten Zählungen ca. 300.000 minderjährige Flüchtlinge1 registriert [18]. Insgesamt ist bei dieser Personengruppe von einer höheren Kariesprävalenz auszugehen als bei deutschstämmigen Kindern derselben Altersgruppe. Diese Annahme leitet sich aus den bekannten Risikofaktoren für die Entstehung kariöser Zahnläsionen ab. Nach Keyes (1962) und König (1987) wird Karies durch die vier ätiologischen Faktoren Wirt, Mikroorganismen, Substrat und Zeit verursacht [8,9]. Neben diesen Kausalfaktoren werden für die Kariesentstehung weitere Risikofaktoren diskutiert. Hier konnten insbesondere ein niedriger sozioökonomischer Status, ein geringes Inanspruchnahmeverhalten präventiver (zahn-)medizinischer Leistungen sowie Aufklärungsdefizite über die Entstehung und Vermeidung von Zahnkaries herausgestellt werden [5].
Bei Familien aus anderen Kulturkreisen, die vorübergehend oder dauerhaft in Deutschland leben, kumulieren oftmals mehrere der genannten Einflussfaktoren. So erweisen sich Sprachschwierigkeiten als Hindernis bei der Mundgesundheitsaufklärung. Der kulturelle Hintergrund bedingt häufig eine reduzierte Inanspruchnahme von Prophylaxemaßnahmen. Zudem gehören migrierte Familien überdurchschnittlich häufig den unteren sozioökonomischen Schichten an, in denen Zahnprophylaxe allein aus finanziellen Gründen eine untergeordnete Rolle spielt. Insgesamt ergibt sich daraus bei Kindern aus Migrantenfamilien eine Erhöhung der Kariesprävalenz um 70% [15]. Wie hoch das Kariesaufkommen bei minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland tatsächlich ist, muss im Rahmen von Reihenuntersuchungen erst ermittelt werden. In internationalen Studien wurde Zahnkaries bereits als hauptsächliches Gesundheitsdefizit von Kindern aus Flüchtlingsfamilien beschrieben. Die Autoren/-innen berichten über ein Vorliegen kariöser Läsion bei >60% der untersuchten Kinder [7,19].
Da insbesondere bei Kindern die bisherige Karieserfahrung noch immer als zuverlässigster Prädiktor für zukünftigen Befall anzusehen ist, muss bei Kindern aus Flüchtlingsfamilien auch weiterhin von einem hohen Risiko für das Auftreten kariöser Läsionen ausgegangen werden. Dieser Befund stellt das deutsche Gesundheitssystem vor erhebliche finanzielle Herausforderungen. Langfristig kann der durch den Flüchtlingszustrom entstehende enorme Versorgungbedarf weder von den Leistungs- noch von den Kostenträgern des Gesundheitssystems gedeckt werden und muss daher durch geeignete Präventionsprogramme reduziert werden. Dass diese Programme tatsächlich geeignet sind, das Kariesrisiko von Kindern zu verringern, konnten epidemiologische Studien zeigen. So wurde die in der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) verzeichnete Abnahme der Kariesprävalenz bei Kindern mit einer regelmäßigen Inanspruchnahme von Maßnahmen im Rahmen der Individual- und Gruppenprophylaxe assoziiert [16].
Da nach nationalen (Kinder- und Jugendhilferecht SGB VIII) und internationalen (UN-Kinderrechtskonvention, europäische Grundrechtecharta) Richtlinien allen in Deutschland lebenden Kindern unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem rechtlichen Status gleiche Gesundheitsrechte zustehen, ist die Einbindung von minderjährigen Flüchtlingen in zahnmedizinische Präventionsprogramme auch ein juristisches Erfordernis. Hierbei müssen jedoch kulturelle und organisatorische Besonderheiten berücksichtigt werden. Wie oben erwähnt weisen Flüchtlingsfamilien ein eher beschwerdeorientiertes Inanspruchnahmeverhalten präventiver Gesundheitsleistungen auf. Von Prophylaxemaßnahmen in der Zahnarztpraxis werden Flüchtlingskinder daher kaum profitieren. Zudem konnten Studien zeigen, dass bei Flüchtlingen die soziale Gemeinschaft mit Angehörigen des eigenen Kulturkreises eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Gesundheitskompetenz spielt [10]. Die Gestaltung eines niederschwellig erreichbaren Präventionsprogramms, seine Integration in das Alltagsleben der Flüchtlinge und der Einbezug der gesamten, mehrere Generationen umfassenden kulturellen Gemeinschaft, lässt einen nachhaltigeren Effekt der Maßnahme erwarten [11] (Abb. 1).
Die Entwicklung und Durchführung dieser gruppenprophylaktischen Maßnahmen zur Verbesserung der Mundgesundheit von Kindern aus Flüchtlingsfamilien können ökonomisch und medizinisch sinnvollerweise von qualifizierten Dentalhygienikern/-innen durchgeführt werden.
Der demographische Wandel
Fast drei Millionen Menschen sind aktuell in Deutschland pflegebedürftig, etwa ein Drittel von ihnen wird in stationären Einrichtungen betreut. Aufgrund der im demographischen Wandel ablesbaren steigenden Lebenserwartung ist zukünftig sogar von einer Vergrößerung dieser Personengruppe auszugehen [17].
Laut DMS V weisen hochbetagte, pflegebedürftige Senioren/-innen eine beeinträchtigte Mundgesundheit auf. So besitzen sie durchschnittlich weniger natürliche Zähne, sind häufiger zahnlos, haben eine schlechtere Mundhygiene und nehmen seltener zahnmedizinische Leistungen in Anspruch als gleichaltrige Personen ohne Pflegebedarf [12].
Aufgrund ihrer altersbedingten Beeinträchtigungen sind viele Bewohner von Pflegeeinrichtungen nicht mehr in der Lage, geeignete Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung ihrer Mundgesundheit zu ergreifen. Einerseits benötigen sie Unterstützung bei der Zahn- und Prothesenpflege, zum anderen fehlt ihnen die Möglichkeit, selbstständig die Zahnarztpraxis aufzusuchen, um dort präventive oder therapeutische Leistungen in Anspruch zu nehmen. Vielmehr sind die Pflegebedürftigen darauf angewiesen, dass die betreuenden Personen zahnmedizinischen Behandlungsbedarf erkennen und eine Therapie veranlassen. Altenpflegekräfte sind jedoch häufig nicht ausreichend geschult, um die Senioren/-innen beim Erhalt ihrer Mundgesundheit unterstützen zu können. Dazu konnten Studien zeigen, dass die Pflegekräfte nur geringe Kenntnisse über die Folgen oraler Erkrankungen besaßen, den Mundgesundheitszustand der Bewohner häufig falsch einschätzten und Schwierigkeiten bei der Ein- und Ausgliederung von Zahnersatz sowie ein geringes Wissen über geeignete Techniken und Hilfsmittel für die Mund- bzw. Prothesenpflege hatten [6,13].
Zahnmedizinische Prophylaxe bei pflegebedürftigen Senioren/-innen schließt also die Schulung von Altenpflegekräften unbedingt ein. Dabei sollten nicht nur die o.g. Wissenslücken bei den Pflegern geschlossen, sondern auch gemeinsam interdisziplinäre Prophylaxekonzepte für die Bewohner der Einrichtung erstellt werden. Dazu müssen die zahlreichen Produkte und Hilfsmittel für die Mund- und Prothesenpflege vorgestellt, im Hinblick auf ihre Evidenz bewertet und das jeweils geeignete für den Patienten herausgesucht werden. Hier wird deutlich, dass eine solche Pflegerschulung zum Erhalt der Mundgesundheit pflegebedürftiger Senioren/-innen regelmäßig stattfinden und an die sich ändernden Bedürfnisse der Bewohner/-innen angepasst werden sollte. Hierzu haben sich jährliche Besuche von Dentalhygienikern/-innen in Pflegeeinrichtungen mit theoretischen und praktischen Unterweisungen unter Einbezug der Bewohner bewährt (Abb. 2).
Ausblick
In der Literatur konnten individual- und gruppenprophylaktische Maßnahmen bei den o. g. Patientengruppen zu einer Verbesserung der Mundgesundheit beitragen.
Bei Menschen mit Behinderung zeigte sich, dass durch die Teilnahme an Präventionsprogrammen die Prävalenz von Karies und Parodontalerkrankungen signifikant gesenkt wurde. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen, professionelle Unterstützung bei der Mundhygiene und Fluoridapplikationen führten bei behinderten Kindern zu einem signifikanten Anstieg der Anzahl naturgesunder Gebisse [2].
Auch in Flüchtlingsfamilien konnten Studien den positiven Effekt von zahnmedizinischen Präventionsprogrammen herausstellen. So zeigten Flüchtlingsfamilien, die frühzeitig gute Erfahrungen mit zahnmedizinischen Maßnahmen im Gastland gemacht haben eine höhere Bereitschaft zur Wahrnehmung präventiver Leistungen und eine insgesamt bessere Mundgesundheit [11].
Durch regelmäßige dentalhygienische Schulungen in Altenpflegeeinrichtungen konnte wiederum der Wissens- und Fertigkeitsstandart der Pflegekräfte angehoben und die Mundhygiene sowie der gesamte Mundgesundheitszustand bei den Bewohnern/-innen verbessert werden [4,14].
Vor diesem Hintergrund stellt die Einbindung von Dentalhygienikern in die zahnmedizinische Prävention bei Patienten mit erhöhtem Risiko für orale Erkrankungen und einer eingeschränkten Möglichkeit zur Inanspruchnahme von Präventionsleistungen in der zahnärztlichen Praxis ein medizinisches, ethisches sowie rechtliches Erfordernis da, und ist darüber hinaus eine ökonomisch sinnvolle Möglichkeit, den gesellschaftlichen Herausforderungen im Gesundheitssystem zu begegnen.
Weitere Autoren:
• Wally Zimmermann Dentalhygienikerin (BSc.) Zahnarztpraxis Dr. Krusche Neckarsteinach
• Prof. Dr. Georg Gaßmann, praxisHochschule Köln
1 Nach der Genfer Konvention ist ein Flüchtling eine Person, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Staates befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Die Bezeichnung bezieht sich auf männliche und weibliche Personen.