Prothetische Konzepte in der Implantologie: Welche Lösung eignet sich für welchen Patienten?

Heute haben sich eine Vielzahl von prothetischen Möglichkeiten etabliert, die das Indikationsspektrum von Implantaten breit fächern. Von der abnehmbaren, über die bedingt abnehmbaren bis zur festsitzenden Prothetik ist jede Versorgung mit Implantaten realisierbar. Bei der Vielzahl der Möglichkeiten wird die Frage nach der für den eigenen Patienten optimalsten Lösung immer wichtiger und gleichzeitig immer komplexer.
Die Implantologie ist eine Therapieform, die in der modernen Zahnmedizin einen festen Platz gefunden hat. Historisch beschrieb E.J. Greenfield dentale Implantate bereits in einer Publikation von 1913 [3]. Wurden anfangs verschiedene Formen wie Käfig-, Nadel- und Blattimplantate verwendet, gingen in den siebziger Jahren Koch und Kirsch [4, 5] mit dem IMZ-System sowie Schulte [7] mit dem Tübinger Sofortimplantat und Schröder [6] mit seinen Hohlzylinderimplantaten neue Wege. Wegbereitend waren die Arbeiten der Arbeitsgruppe um P.I. Brånemark [1], die an maschinierten, gedeckt und entlastet einheilenden Schraubenimplantaten einen unmittelbaren Knochen-Implantat-Übergang nachweisen konnten, wofür sie erstmals den Begriff Osseointegration einführten. Von diesen ersten Behandlungskonzepten ausgehend, haben sich heute eine Vielzahl von prothetischen Möglichkeiten entwickelt, die das Indikationsspektrum von Implantaten breit fächern. Von der abnehmbaren (Kugelköpfe, Magnet-Attachements, Locator, Doldersteg, gefräste Stege mit oder ohne Riegel, Teleskopkronen) über die bedingt abnehmbaren bis zur festsitzenden Prothetik ist jede Versorgung mit Implantaten realisierbar. Bei der Vielzahl der Möglichkeiten wird die Frage nach der für den Patienten optimal geeigneten Lösung immer wichtiger und gleichzeitig immer komplexer zu beantworten.
Kriterien, die für die Entscheidung der geeigneten prothetischen Lösung eine Rolle spielen, sind Gegenbezahnung (festsitzender oder herausnehmbarer ZE), Bisslage, Bezug der Zahnreihe zum Kieferkamm, interokklusaler Raum, parodontale Situation, Vorliegen von Parafunktionen wie Bruxismus oder CMD, phonetische Aspekte, Hygienefähigkeit des Patienten sowie die ästhetischen und individuellen Patientenwünsche. Entscheidend ist dabei eine fundierte Anamnese und Beratung, um die Wünsche des Patienten richtig zu erkennen und für ihn geeignete Lösungen anbieten zu können. Für den Patienten geht es hierbei oft auch um die psychologisch nicht unbelastete Frage „festsitzend oder herausnehmbar“. Hier sollte im Beratungsgespräch, z. B. anhand von Modellen, den Patienten anschaulich gezeigt werden, wie die spätere Lösung aussehen könnte, um Missverständnissen durch falsche Patientenvorstellungen von Anfang an vorzubeugen.
Zur Entscheidungsfindung ist es bei komplexen prothetischen Planungen oft hilfreich, vom Zahntechniker ein diagnostisches Wax-up/Set-up erstellen zu lassen, welches auch zur Phonetik- und Ästhetikanprobe am Patienten eingesetzt werden kann. Dadurch kann der Patient sich bereits in der ersten Phase der Behandlungsplanung ein realistisches Bild vom Behandlungsziel machen und der Behandler gewinnt notwendige Informationen, z. B. über Kauebene, Phonetik, Ästhetik und Lippenstütze. Sind alle oben genannten Kriterien evaluiert, lassen sie bei genauer Analyse letztlich nur eine begrenzte Anzahl von prothetischen Optionen übrig, aus denen dann abschließend mit dem Patienten gemeinsam gewählt werden sollte. Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass die Biologie des Patienten die Lösungen vorgibt.
So lassen sich beispielsweise mit zwei Implantaten zahnlose Unterkiefer mit einem Doldersteg versorgen, wenn im Gegenkiefer keine hohen Kaukräfte zu erwarten sind (z. B. Totalprothese). Bei starker Atrophie des Kieferkammes sind dagegen bei gleicher Ausgangssituation vier Implantate nötig, um mittels Steg, Teleskopkronen oder Locatoren Druckstellen auf dem Kieferkamm wirkungsvoll zu entlasten. Mit vier Implantaten lassen sich im Oberkiefer mittels individuell gefrästem Extensions-Steg auch schon in vielen Fällen gaumenfreie Stegprothesen realisieren, die vom Tragekomfort einer festsitzenden Lösung sehr nahe kommen können. Soll eine Teleskopversorgung angestrebt werden, sind dagegen in aller Regel mindestens sechs Implantate notwendig, um ein ausreichendes Abstützungspolygon zu erreichen. Liegt eine hohe Lachlinie vor, muss unbedingt anhand eines Wax-up/ Set-up in der Planungsphase geklärt werden, ob für die „pink esthetic“ eine keramische Gingivamaske sinnvoll ist - falls ja, darf der Übergang von natürlicher zu keramischer Gingiva beim Lachen nicht entblößt werden, da dieser ästhetisch nicht zu kaschieren ist. Fehlt gleichzeitig durch vestibuläre Resorption im Oberkiefer die Lippenstütze, ist eine abnehmbare prothetische Lösung mit vestibulärem Lippenschild anzustreben. Für eine festsitzende Lösung sind im Unterkiefer sechs, im Oberkiefer acht Implantate anzustreben.
Ist die prothetische Planung erstellt, ist es die Aufgabe des Implantologen, diese im Sinne eines „backward planning“ chirurgisch umzusetzen. Dabei ist im Einzelfall abzuwägen, welche diagnostischen und therapeutischen Mittel erforderlich sind (OPG oder dreidimensionale Bildgebung, Röntgenschablonen, Bohrschablonen konventionell oder computergestützt hergestellt etc.). Vor Beginn der chirurgischen Phase ist eine genaue Aufklärung des Patienten sowohl über den chirurgischen als auch über den zeitlichen Ablauf der Behandlung sinnvoll. Wird die Behandlung wie in unserer Überweiserpraxis im Team mit dem überweisenden Prothetiker durchgeführt, ist eine genaue Absprache der Behandlungszeiträume und Abläufe hilfreich, um dem Patienten einen „nahtlosen“ Behandlungsverlauf bieten zu können. Eine präzise Aufstellung über die zu erwartenden Kosten schließt die Patientenaufklärung ab.
Fallbeschreibung
Die 66-jährige Patientin wurde zur Versorgung des Oberkiefers überwiesen. Eine vorhandene Teleskop-Teilprothese war nach Verlust wichtiger Pfeilerzähne insuffizient geworden. Die Allgemeinanamnese war unauffällig, die Patientin war Nichtraucherin. Der intraorale Befund zeigte im Oberkiefer eine Restbezahnung mit fortgeschrittenen Lockerungsgraden, die aufgrund parodontaler, endodontischer und kariöser Probleme nicht erhaltungsfähig war. Die Unterkiefer Restbezahnung erscheint bis auf eine mäßiggradige PMP erhaltungsfähig und war zum Zeitpunkt der Erstkonsultation mit einer Modellguss-Teilprothese versorgt.
Die Patientin äußerte den Wunsch nach einer gaumenfreien Versorgung mit gutem Komfort und Halt im Oberkiefer. Den Unterkiefer will sie zu einem späteren Zeitpunkt implantologisch versorgen lassen (Abb. 1 und 2).
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Abb. 1: Lateralansicht der Ausgangssituation.
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Abb. 2: Lateralansicht der Ausgangssituation.
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Abb. 3: OPG der Ausgangssituation.
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Abb. 4: Ansicht der Oberkiefer-Alveolarfortsätze.
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Abb. 5: Ansicht der Oberkiefer-Alveolarfortsätze.
Die Abbildungen 3, 4 und 5 zeigen die Situation mit der noch zu entfernenden Restbezahnung 11, 12 und 13. Deutlich zu erkennen ist der in der Vertikalen gut erhaltene Kieferkammverlauf, während in der Aufsicht ein deutliches vestibuläres Defi zit in regio 21-24 erkennbar ist. Der Zahn 17 wurde aufgrund akuter Beschwerden sofort extrahiert und die vorhandene Teilprothese wurde erweitert. Die Abbildungen 6 und 7 zeigen die extraorale Situation ohne Prothese, jedoch mit Restbezahnung. Die Lippenstütze ist ausreichend, das Lippenrot voll und der Nasolabialwinkel korrekt. Nach notwendiger Extraktion der Zähne 11, 12 und 13 zeigt sich ein anderes Bild: die Lippen sind eingefallen, das Lippenrot verschmälert und der Nasolabialwinkel ist vergrößert (Abb. 8 und 9). Die korrekte Positionierung der Frontzähne ist also in diesem Fall entscheidend, ein vestibuläres Lippenschild ist dagegen nicht zwingend erforderlich zur Stütze der Oberlippe. Die Lachlinie ist tief, Gingivaanteile zeigt die Patientin auch bei maximalem Lächeln nicht.
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Abb. 6 und 7: Extraorale Situation ohne Prothese - jedoch mit Restbezahnung.
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Abb. 8 und 9: Extraorale Situation nach Extraktion der Zähne 11, 12 und 13.
Zunächst wurde von der Überweiserin mit dem Zahntechniker eine Interims-Totalprothese hergestellt. Wichtig ist dabei, diese bereits mit gleichem Aufwand wie eine definitive Prothese nach phonetischen und ästhetischen Gesichtspunkten aufzustellen und als Wachsanprobe intraoral einzuprobieren, da die Interimsprothese idealerweise die endgültigen Zahnpositionen bereits festhält. Nach einer Heilungszeit von 3 Monaten post extraktionem wurde die Interimsprothese nochmals überprüft. Die Patientin zeigte sich mit Ästhetik und Phonetik der Interimsprothese zufrieden, so dass anhand der doublierten Interimsprothese eine Chirurgie-Schablone erstellt werden konnte (Abb 10-12).
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Abb. 10: Herstellung einer Chirurgieschablone anhand der Interimsprothese.
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Abb. 11: Herstellung einer Chirurgieschablone anhand der Interimsprothese.
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Abb. 12: Fertig ausgearbeitete Chirurgieschablone.
Anhand dieser erfolgte zunächst in Lokalanästhesie eine autologe Blockaugmentation zur Rekonstruktion des Kieferkammbogens (vgl. Abb. 4 und 5) und eine externe Sinusbodenelevation beidseits mit autologem Knochen und bovinem Knochenersatzmaterial. Die Knochenentnahme erfolgte aus der Retromandibulärregion. Damit auf eine aufwändigere und für die Patientin unangenehmere Beckenkammentnahme verzichtet werden kann, gilt es, das begrenzte Knochenangebot optimal auszunutzen. Daher verwenden wir in unserer Überweiserpraxis wenn immer möglich eine chirurgische Schablone bereits zum Zeitpunkt der Augmentation, um gezielt knöcherne Defizite in Bezug zur geplanten Implantatposition aufbauen zu können. Nach einer komplikationslosen Heilungsphase von 3 Monaten erfolgte die Implantatinsertion. Dazu wurde eine OPG-Messaufnahme mit der Chirurgieschablone angefertigt (Abb. 13). Anhand der Chirurgieschablone wurden die geplanten Implantatpositionen im augmentierten Knochen in Lokalanästhesie umgesetzt (Abb. 14-17). Auf dem postoperativen OPG (Abb. 18) ist erkennbar, dass zur exakten Umsetzung der Implantatpositionen 14, 13 und 11 beim Setzen der Implantate bukkal noch etwas nachaugmentiert wurde. Nach dreimonatiger Heilungsphase erfolgte die Freilegung. Dazu wurde ein von palatinal nach bukkal mobilisierter Verschiebelappen präpariert, um eine ausreichende Breite an keratinisierter Gingiva um die Implantate zu erhalten. Die restlichen Medartisschrauben wurden entfernt, die knöcherne Situation um die Implantate ist vollständig ausgeheilt (Abb. 19 und 20).
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Abb. 13: Zustand nach Augmentation, Sinuslift beidseitig und Medartisschrauben in situ erkennbar.
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Abb. 14: Vollständig eingeheilte Augmentation, der Kieferkammverlauf ist rekonstruiert.
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Abb. 15: Erste Pilotbohrungen mit der Chirurgieschablone.
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Abb. 16: Überprüfung der Pilotbohrungen mit den CAMLOGRichtungsindikatoren.
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Abb. 17: Implantate in regio 16, 14, 13, 11, 21, 23, 24 und 26 inseriert.
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Abb. 18: Postoperatives OPG mit Medartis Schrauben in situ.
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Abb. 19: Keine Resorption um die Implantate nach Augmentation, Schrauben in situ.
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Abb. 20: Nach bukkal verschobene Lappenplastik zur Verbreiterung der keratinisierten Gingiva.
Zwei Wochen nach Freilegung wurde die Patientin zur prothetischen Phase an die zuweisende Kollegin (Dr. Christine Severin, Dres. Severin&Doll, 82380 Peißenberg) zurück überwiesen. Es wurden in vollkeramischer Technik vier dreigliedrige Brücken hergestellt. Dazu wurden Gerüste aus Zirkonoxidkeramik erstellt, die individuell vollverblendet wurden (Zahntechnik Schmitt GmbH, 82487 Oberammergau). Aufgrund der Implantatpositionen ist die Anfertigung von einzelnen Brücken in regio 16-14, 13-11, 21-23, 24-26 anstelle einer vollspännigen Gesamtkonstruktion möglich. Dies erleichtert nicht nur das zahntechnische und zahnärztliche Vorgehen bei Herstellung, Anprobe und Einsetzen des Zahnersatzes, sondern ermöglicht auch in den Recall-Phasen ein vereinfachtes Handling. Ferner wird die Gefahr von Chipping oder Gerüstfrakturen durch geringe Biegebelastungen auf den kurzen Gerüstabschnitten minimiert. Sollte dennoch im Laufe der Tragedauer einmal eine Reparatur nötig werden, kann das betroffene Brückensegment gezielt behandelt werden, ohne die übrigen Brückensegmente abnehmen zu müssen. Wir empfehlen für zementierte Arbeiten grundsätzlich ein semidefinitives Befestigen z. B. mit Durelon® (3M Espe), was zum einen die beschädigungsfreie Abnahme der Suprakonstruktion im Bedarfsfalle ermöglicht und zum anderen das Risiko von periimplantären Entzündungen durch nicht entfernte Zementreste minimiert. Das Risiko dieser sogenannten „Zementitis“ ist in der Vergangenheit immer wieder publiziert worden [2, 8] und stellt neben Keramikfrakturen aufgrund der eingeschränkten Kausensibilität und ggf. nicht passivem Sitz der Suprakonstruktion die häufigste prothetische Komplikation dar.
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Abb. 21: Lippenbild der Patientin bei geschlossenem Mund, definitiver Zahnersatz in situ.
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Abb. 22: Definitiver Zahnersatz in situ.
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Abb. 23 und 24: Korrekte Lippenstütze mit harmonischer orofazialer Ästhetik.
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Abb. 25: Intraorale Ansicht des Zahnersatzes in situ, stabile Weichgewebssituation periimplantär.
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Abb. 26: OPG-Kontrolle mit Zahnersatz in situ.
Die Patientin bekam abschließend von der behandelnden Kollegin eine genaue Mundhygieneinstruktion, im Zahnersatz sind Führungskanäle für Interdentalbürstchen eingearbeitet, die der Patientin eine definierte Mundhygiene ermöglichen. Die Patientin zeigte sich bei der Nachkontrolle mit Ästhetik, Phonetik und Funktion voll zufrieden und möchte nun nach eigenen Worten „die implantologische Versorgung des Unterkiefers angehen“.
Zusammenfassung
Komplexe (implantat-) prothetische Rehabilitationen erfordern eine präzise Planung nach klar definierten Kriterien, um die für den Patienten optimal passende Versorgung zu finden. Ist diese Zielvorgabe zusammen mit dem Patienten erarbeitet, ist es unsere Aufgabe als implantologische Überweiserpraxis, die korrekten prothetischen Parameter chirurgisch präzise umzusetzen und somit die Basis für den prothetischen Erfolg zu schaffen. Je aufwändiger der Patientenfall dabei ist, umso entscheidender ist ein gut funktionierendes Teamwork zwischen Prothetiker, Zahntechniker und Chirurg von Anfang an.
Implantatsystem
Camlog (Wimsheim)
Schrauben
Medartis (CH-Basel)
Befestigungszement
Durelon®, 3M Espe (Seefeld)