Regeneration

Teil 1 – Grundlagen und Definitionen

Biologische Breite und Gewebetyp – was steckt dahinter?


Die biologische Breite und besonders der so genannte Biotyp sind bis heute unklare Konzepte. In immer neuen Studien werden mögliche Zusammenhänge zwischen Knochen- und Weichgewebsdimensionen untersucht. Damit soll sich voraussagen lassen, wie sich die periimplantären Gewebe nach der Implantattherapie verhalten werden. Ein Blick in die aktuelle Literatur zeigt jedoch, dass die Rolle von Genetik, Anatomie und weiteren Faktoren nicht so leicht zu durchschauen ist.

  • Abb. 1: Biologische Breite um Zähne: Epitheliale und bindegewebige Anteile weisen einen suprakrestalen Durchschnittswert von drei Millimeter auf. Im engeren Sinne setzt sich die biologische Breite nur aus bindegewebigem Attachment und Saumepithel zusammen. Die jeweiligen Dimensionen weichen individuell stark voneinander ab (Grafik stark vereinfachend).

  • Abb. 1: Biologische Breite um Zähne: Epitheliale und bindegewebige Anteile weisen einen suprakrestalen Durchschnittswert von drei Millimeter auf. Im engeren Sinne setzt sich die biologische Breite nur aus bindegewebigem Attachment und Saumepithel zusammen. Die jeweiligen Dimensionen weichen individuell stark voneinander ab (Grafik stark vereinfachend).
Die biologische Breite um natürliche Zähne ist als Länge des suprakrestalen Bindegewebes plus Länge des Saumepithels definiert (Abb. 1) [1]. In der Implantologie entspricht dies der Distanz von der koronalsten Ausdehnung des Saumepithels (Taschenfundus) bis zum krestalen Knochenrand. Im klinischen Gebrauch wird zunehmend der gingivale Sulkus mit eingeschlossen und insgesamt als suprakrestales Weichgewebe bezeichnet [2]. Gargiulo hatte bereits im Jahr 1961 in seiner grundlegenden Untersuchung den Begriff „physiologic dento-gingival junction“ geprägt (etwa: „dentogingivaler Verbindungsbereich“) [3].

Parodontologen diskutieren die biologische Breite im Zusammenhang mit Kronenverlängerungen bereits seit den 1970er Jahren. Als Ergebnis lässt sich für natürliche Zähne festhalten, dass vom alveolären Knochen bis zum Rand einer festsitzenden Krone mindestens drei Millimeter Abstand eingehalten werden sollten [1, 4].

Biologische Breite um Zähne

Um natürliche Zähne wird die biologische Breite im Durchschnitt mit zirka zwei Millimetern angenommen, plus einen Millimeter für den Sulkus [3, 5]. Dies ist aber nur ein grober Richtwert. So fanden Forscher in einer neueren Studie für das suprakrestale Weichgewebe Werte von ein bis zu sechs Millimetern [2]. Das bindegewebige Attachment zeigte dabei die geringste Variabilität [6]. Der tatsächliche Wert hängt aller Wahrscheinlichkeit nach von genetischen Faktoren ab und zusätzlich von der Zahnfläche und der Lokalisation im Zahnbogen.

  • Abb. 2a und 2b: Breite und morphologische Ausprägung der parodontalen Weichgewebe sind individuell sehr unterschiedlich. Das gilt für die dem Zahn, aber auch die der Mundhöhle zugewandten Gewebe, zum Beispiel für die Breite der fixierten Mukosa (Fotos: Plugmann).

  • Abb. 2a und 2b: Breite und morphologische Ausprägung der parodontalen Weichgewebe sind individuell sehr unterschiedlich. Das gilt für die dem Zahn, aber auch die der Mundhöhle zugewandten Gewebe, zum Beispiel für die Breite der fixierten Mukosa (Fotos: Plugmann).
Konsequenterweise sollten daher vor Beginn einer prothetischen Therapie – ob auf natürlichen Zähnen oder Implantaten – die tatsächlichen Verhältnisse bei jedem Patienten und für jeden Zahn oder jedes Implantat separat untersucht werden [5]. Hierfür kann zum Beispiel unter Lokalanästhesie mit einer kalibrierten Parodontalsonde die Distanz vom Knochenrand zum Gingivalrand gemessen werden (Bone Sounding) [7]. Zusätzlich sollten Röntgenaufnahmen ausgewertet werden [8]. Neben der Höhe der suprakrestalen Weichgewebe variiert zum Beispiel auch die Breite der befestigten Gingiva sehr stark (Abb. 2a und 2b). Sie betrug in einer Studiengruppe von nur zehn gesunden Patienten zwischen 0,5 und 8 Millimeter [9]. Dies ist nicht überraschend und kann analog zu anderen inter-individuellen Unterschieden gesehen werden, zum Beispiel in der Form und Größe von Zähnen [10].

Auch der vertikale Abstand des Alveolarknochens zur Schmelzzementgrenze benachbarter Zähne ist von Patient zu Patient unterschiedlich, möglicherweise auch zwischen unterschiedlichen Ethnien. So ergab eine radiologische Untersuchung im Seitenzahnbereich für aus Ostasien stammende Probanden einen signifikant höheren Wert als für Probanden aus Europa, Indien oder Westasien [11]. Alle diese Faktoren haben Auswirkungen auf das klinische Vorgehen, sowohl bei natürlichen Zähnen als auch bei Implantaten.

Biologische Breite um Implantate

  • Abb. 3: Die biologische Breite um Implantate entspricht etwa derjenigen um Zähne, mit einem durchschnittlich etwas höheren Anteil der bindegewebigen Komponente (Grafik stark vereinfachend).

  • Abb. 3: Die biologische Breite um Implantate entspricht etwa derjenigen um Zähne, mit einem durchschnittlich etwas höheren Anteil der bindegewebigen Komponente (Grafik stark vereinfachend).
Die Abmessungen periimplantärer Weichgewebe liegen in derselben Größenordnung wie diejenigen des Parodonts. Für das Saumepithel können zirka 1,5 mm und für das bindegewebige Attachment zwischen 1,2 und 2,0 mm angenommen werden, zusammen rund drei Millimeter (Abb. 3). Dieser Wert, der selbstverständlich inter- und intra-individuellen Schwankungen unterliegt, bleibt unter gesunden Bedingungen langfristig stabil [12, 13]. Hinzu kommt der gingivale Sulkus, so dass sich für das suprakrestale Weichgewebe ein Durchschnittswert von 4 bis 5 Millimeter ergibt. Zudem scheint bei Sofortimplantationen die epitheliale Komponente im Vergleich zu verzögerten Implantationen länger zu sein [14]. Weiterhin wurde im Tierversuch bei transgingivaler Einheilung ein kürzeres Sulkusepithel, also eine geringere Taschentiefe gefunden als bei geschlossener Einheilung. Die Gesamthöhe des suprakrestalen Weichgewebes war dagegen etwa gleich [15].

Bei Implantaten wird die biologische Breite zum Beispiel durch entsprechende Gestaltung der Implantatschulter und des Verbindungsdesigns berücksichtigt. So fördert eine dichte und stabile Implantat-Abutment-Verbindung, vor allem in Kombination mit horizontalem Versatz des Abutments (Platform Switching), tendenziell die Stabilität der Hart- und Weichgewebe [16, 17], nach neueren Übersichtsarbeiten jedoch noch ohne evidenzbasierte Unterschiede zwischen einzelnen Implantatsystemen [18]. Ebenfalls nicht geklärt sind die exakte Rolle und das mögliche Zusammenspiel einzelner Faktoren für die zu erwartende Gewebestabilität nach Implantatversorgung [19]. Es gibt Hinweise zum Beispiel für geringere Knochenresorption bei dickem Gewebetyp oder bei Vorliegen einer breiten befestigten Gingiva [20]. Nach neueren Übersichtsartikeln und geltenden Konsenspapieren sind diese möglichen Zusammenhänge aber noch nicht ausreichend belegt oder wurden dort noch gar nicht diskutiert [21, 22].

Dicker Knochen, dicke Gingiva?

Unklar ist auch, ob es Zusammenhänge zwischen den Abmessungen des Alveolarknochens und der Prognose periimplantärer Weichgewebe gibt. In immer neuen Variationen werden zum Beispiel die Breite des Alveolarfortsatzes oder die Dicke der bukkalen Lamelle vermessen und mit periimplantären Weichgeweben abgeglichen, auch in Abhängigkeit vom Implantationszeitpunkt. Klare Tendenzen sind bisher nicht zu erkennen. So fanden Forscher – wider Erwarten – keinen Zusammenhang zwischen bukko-oraler Breite des Alveolarfortsatzes oder der bukkalen Weichgewebsdicke und dem Vorhandensein einer Papille zwischen zwei Implantaten [23]. In einer anderen Studie mit natürlichen Zähnen fehlte eine statistisch nachweisbare Beziehung zwischen bukkaler Knochendimension und bukkaler Weichgewebsdicke im Frontzahnbereich [24]. Dagegen wurde in derselben Untersuchung eine signifikante Korrelation zwischen bukkaler Knochendicke und der Breite der fixierten Gingiva gefunden.

Fehlende Zusammenhänge zwischen der Ausprägung von Alveolarknochen und Weichgeweben lassen sich insofern erklären, als sie embryologisch aus unterschiedlichen Strukturen entstehen. So ist der Knochen des Alveolarfortsatzes, im Gegensatz zur alveolären Basis, ein zahnabhängiges Gewebe, das sich aus dem Ektomesenchym (Mesoderm) ableitet [25]. Dagegen ist das orale Epithel ektodermaler Herkunft.

Die Rolle des Phänotyps

Biotyp ist ein genetischer Begriff. Er bezeichnet die „Gesamtheit der Phänotypen bei Individuen des gleichen Genotyps“, also alle Merkmalsvariationen, die bei gleicher genetischer Ausstattung innerhalb einer Spezies auftreten [26]. In der Pub-Med-Datenbank finden sich zum Eintrag „biotype“ überwiegend Studien aus der Bakteriologie und Botanik, nicht aus medizinischen Disziplinen. Nur in der Zahnmedizin wird das Schlagwort „gingival biotype“ in Bezug auf die Ausprägung von Geweben verwendet, wobei meist gingivale Weichgewebe untersucht werden. Ende 2012 ließen sich 82 Artikel identifizieren.

Ein besser geeigneter Begriff, der in medizinischen Artikeln gebräuchlich ist, lautet „phenotype“ (Phänotyp). Er wird defi niert als „das gesamte Erscheinungsbild eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt (…)“ [26] und kann zahnmedizinisch als gingivaler Phänotyp spezifiziert werden. Für „gingival phenotype“ fanden sich zum selben Zeitpunkt fünf Artikel in Pubmed, darunter eine viel zitierte Studie des Heidelberger Parodontologie-Professors Hans-Peter Müller [27].

Zahlreichen Übersichtsartikeln und Fallberichten zum Thema gingivaler Phänotyp stehen wenige epidemiologische Primärstudien mit einer ausreichenden Anzahl von Probanden gegenüber. Die Ergebnisse sind widersprüchlich. So bestätigt eine neuere Untersuchung einerseits ältere Thesen, nach denen es die häufi g zitierten Grundtypen „dickes Gewebe mit quadratischen Zähnen“ und „dünnes Gewebe mit schmalen Zähnen“ tatsächlich gibt [28]. Sie waren mit jeweils einem Drittel der 100 gesunden Probanden vertreten, wobei der dünne Gewebetyp vor allem bei Frauen beobachtet wurde. Bei dem verbleibenden Drittel hatten die Probanden schmale Zähne, aber eine vergleichsweise dicke Gingiva. Dass statistisch ermittelte Gruppen je nach Untersuchung abweichende Merkmalskombinationen aufweisen, führen die Autoren auch auf genetische oder ethnische Ursachen zurück [28].

Klinische Relevanz

Die Ausprägung von Hart- und Weichgeweben ist für die Implantologie von großer Bedeutung. Aus der Literatur wird deutlich, dass jeder Patient eine ganz individuelle Kombination von Ausprägungen aufweist. Diese schließen ein einfaches Entscheidungsmuster – wie eine Zweiteilung in „dick“ und „dünn“ – von vornherein aus. Zu berücksichtigen sind neben der Weichgewebsdicke zahlreiche weitere Faktoren, wie zum Beispiel die Länge des bindegewebigen Attachments, die Breite und der Zustand der befestigten Gingiva, die Lage der Mukogingivalgrenze, die Höhe der Lachlinie, die Insertionshöhe der mimischen Muskulatur am Alveolarfortsatz, der Durchmesser und die Anatomie des Alveolarknochens, prothetisch-funktionelle Faktoren, pathologische Veränderungen wie Narbengewebe und parodontale Entzündung und vieles mehr. Weiterhin spielt das geplante chirurgische und implantatprothetische Vorgehen eine Rolle.

Die meisten Faktoren lassen sich metrisch, palpatorisch, radiologisch oder visuell erfassen und in die therapeutischen Überlegungen einbeziehen. Fachgesellschaften haben praxisgerechte Empfehlungen zur Risiko-Abschätzung zur Verfügung gestellt [31, 32]. Eine Zusammenfassung verfügbarer therapeutischer Empfehlungen vor dem Hintergrund der aktuellen Literatur folgt in Teil 2 dieses Beitrags in der Oktober-Ausgabe.

Den Fragebogen zur interaktiven Fortbildung finden Sie hier!

Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Prof. Dr. Dr. Philipp Plugmann MSc MSc MBA

Bilder soweit nicht anders deklariert: Prof. Dr. Dr. Philipp Plugmann MSc MSc MBA