Aufgrund des immer höher werdenden Anteils von Patienten mit Abrasionen, Attritionen, Erosionen und/oder Parafunktionen steht der in diesem Artikel vorgestellte Behandlungsansatz stellvertretend für ein minimalinvasiv [13] und okklusions-prophylaktisch orientiertes Behandlungskonzept [6e] – im Sinne einer Sicherung der statischen Okklusion und Gewährleistung einer interferenzfreien dynamischen Okklusion [6d,9-11].
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass auf Gelenkebene lediglich ein Spielraum von 0,6 – 0,8 mm vorliegt [6a,6b] und die Taktilität des Kausystems noch empfindsamer reagiert (0,02 – 0,03 mm) [6c] von zentraler Bedeutung bei der Rekonstruktion von Zähnen und Kauflächen. Als Behandlungsziel wird daher eine Defensivgestaltung der Kauflächen angestrebt, um bei der Parafunktion – welche primär nicht als Pathologie, sondern als Stressventil des Patienten zu betrachten ist – das Risiko einer Überlastung bzw. Schädigung des Kauorgans zu minimieren.
Problematik: Erhöhung der vertikalen Dimension Eine Erhöhung (oder auch Absenkung) der vertikalen Dimension stellt bei Myoarthropathie, fehlenden Zähnen sowie parodontaler Entzündung mit Attachmentverlust eine zusätzliche Herausforderung dar, noch dazu wenn in einem Kiefer festsitzender implantatgetragener Zahnersatz unter Auflösung der Stützzonen vorgesehen ist [6d]. Nachfolgend soll nun im Rahmen eines synoptischen Behandlungskonzepts gezeigt werden, wie diese Problematik gelöst wird. Im Fokus standen hierbei die Funktion, die Phonetik und die Ästhetik [1,5].
Patientenfall: Spezielle Anamnese
Eine 70-jährige Patientin stellte sich auf Empfehlung eines anderen Patienten mit einem sanierungsbedürftigen, parodontal geschädigten Gebiss vor. Zudem zeigten sich Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich. Sie wies darauf hin, dass sich aufgrund diverser Extraktionen [15,14] in der jüngsten Vergangenheit das Kauvermögen deutlich reduziert hat und die Zähne besonders in der oberen Front über die Jahre immer länger würden.
Laut eigener Aussage «passen die Zähne nicht mehr richtig aufeinander» und auf der linken Seite wäre das Kauen nur noch eingeschränkt möglich. Vor ungefähr 30 Jahren wurde laut Patientin eine Parodontitisbehandlung (Lappen-OP) durchgeführt. Sie gab an, dass sie mit den Zähnen knirscht. Zudem leide sie an überempfindlichen Zahnhälsen im Bereich der Prämolaren und Molaren beidseits. Die klinische Funktionsanalyse zeigte positive parafunktionelle Befunde (CMD latent), welche jedoch klinisch keinerlei Einschränkungen oder Beschwerden (adaptierte Patientin) aufweisen (Abb. 14a).
Allgemeine Anamnese
Erstbesuch und Erhebung der allgemeinmedizinischen Anamnese am 21.06.17. Die Patientin ist am 24.01.1946 geboren. Herzoperation 1962 (Verschluss Ductus Botalis). Die Patientin erinnert sich an die Kinderkrankheiten Keuchhusten, Masern, Mumps, Windpocken und Scharlach. 2011 Apoplex, Rehaklinik in Bad Krozingen für 3 Wochen, anschließend Logopädie für etwa zwei Monate. Medikamenteneinnahme: Moxinidin, Amlodipin, Cadiovan, Metoprolol (Blutdrucksenker).
Diagnose
Aus der klinischen und röntgenologischen Befundung leiteten sich die Diagnosen chronische Parodontitis mittleren Schweregrades, Myoartropathie, Parafunktion – Pressen und Knirschen – mit sichtbarem Zahnhartsubstanzabrieb (Attrition) einhergehend mit Verlust der vertikalen Dimension, leichte Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich, Störung der statischen und dynamischen Okklusion (parodontal „aufgefächerte Oberkieferfront, ungenügende Eckzahnführung rechts, Elongation 16 („Zentrikvorkontakt“), Mesialkippung 47, Freiendsituation Oberkiefer links ab 23, Gruppenführung links, Latero- und Protrusionsfacetten, Mediotrusionsvorkontakte), multiple gingivale Rezessionen, keilförmige Defekte, Zungenindentationen sowie ein prothetisch und konservierend insuffizient versorgtes Erwachsenengebiss ab.
Planung
Grundsätzlich bestand die Diskussion zwischen Räumung der Oberkieferrestbezahnung versus Erhalt (Front 13-23) bei fortgeschrittener Parodontitis, asymmetrischem Knochenverlust, Lockerungsgrad I-II an 12-22 sowie Rezessionen der Gingiva [7], Verlust der interdentalen Papillen im ästhetischen Bereich, mittelhoher Lachlinie und der ausgedehnte Bedarf an konservierender und prothetischer Behandlung im Raum.
Nach Abwägung sowohl ethischer als auch für die Patientin wichtiger psychologischer Aspekte lies dies der Oberkieferrestbezahnung zwar eine fragliche Prognose im Hinblick auf die Langzeitstabilität zuteil werden, jedoch war durch die Freiendsituation links sowie die Schaltlücke rechts das Kauzentrum deutlich nach anterior verlagert, was nach der Sanierung im Seitenzahnbereich eine deutliche Entlastung bringen sollte und somit auch die Prognose der Frontzähne entsprechend positiv beeinflussen dürfte.
Die Patientin wünschte sich zudem nach Möglichkeit den Erhalt der Frontzähne und ist sich des Misserfolgsrisikos bei weiterem parodontalen Attachmentverlust bewusst. Dass auch bei parodontal angeschlagenen Zähnen nach entsprechender Vorbehandlung eine vorhersagbare Langzeitprognose formuliert werden kann [12] stand ausser Frage, jedoch zu welchem (finanziellen und oder zeitlichen) Aufwand und auch mit entsprechend (vorhersagbarem) ästhetischem Outcome?
Vorbehandlung
Nach Befundaufnahme und professioneller Zahnreinigung erfolgte eine Abformung zur Herstellung von Situationsmodellen, Aufnahme des Fotostatus, Clinometerregistrierung (Abb. 16), individueller Gesichtsbogenübertragung, Bissnahme in zentrischer Kondylenposition [10] nach Entfernung des „retralen“ Gleithindernisses an 16, um die Patientin „zentrikfähig“ zu machen. Nach Deprogrammierung der Kaumuskulatur [14] mit einem Aqualizer erfolgte die Bissnahme mittels Frontjig und GC Bite Compound nach Gutowski [8] (Abb. 15). Im Anschluss daran gliederte sich das Wax up/Mock up (Abb. 17) sowie eine Schienenvorbehandlung in RP (Referenzposition UK) für 6 Wochen (Abb. 17a). Es folgte die Entfernung der Oberkieferseitenzähne 17,16 nach Abwägung von Alternativtherapien und ausführlicher Besprechung mit der Patientin.
Daraufhin erfolgte die Socket Preservation mit Geistlich Bio-Oss® (Geistlich Pharma AG, Wohlhusen), Versorgung mit Oberkiefer-Immediatteilprothese (Abheilphase zwei Monate) und Langzeitprovisorium 13-23 (Abb. 17b). Weiter ging es mit der Weichgewebeaugmentation in der Oberkieferfront 13-23 mit Bindegewebstransplantaten, Tunnelierungstechnik und Schmelzmatrixprotein (Abb. 17c). Die endodontische Versorgung (Abb. 17d) der Zähne 13 und 12 erfolgte als Nebenbefund bei der präoperativen Implantatplanung im DVT.
Weitere Abfolge: Etablierung einer neuen vertikalen und horizontalen Relation des Unterkiefers in zentrischer Kondylenposition (ZKP) mit Oberkiefer-Immediatteilprothese und laborgefertigtem Langzeitprovisorium 13-23 im Oberkiefer (Abb. 18), temporäre Kompositaufbauten 36, 33-45 und 47 im Unterkiefer (Tetric Evo Ceram, Ivoclar) anhand des Wax-ups mittels transparenter Silikonschlüssel (Elite Transparent, Zhermack) (Abb. 18a), begleitende Kieferphysiotherapie zur Unterstützung der Adaptation an die neue VDO [2-4]. Reevaluation/Akzeptanz der neuen VDO nach Adaptationsphase von acht Wochen. Nach erfolgter Vorbehandlung stellten sich alle ausser Zahn 47 für die definitive Versorgung geplanten Zähne im Unterkiefer als sicher erhaltungswürdig dar.
Definitive Versorgung
Für die definitive Versorgung im Oberkiefer war eine schablonengeführte Implantation (Nobel Guide, Nobel Biocare) (Abb. 19 und 20) mit verschraubten Einzelkronen 4,5,6 beidseits (Lithiumdisilikat “IPS e.max Press, Ivoclar) auf Universal Base Abutments (Nobel Biocare) mit Multilink Hybrid-Abutment (Ivoclar) geklebt nötig. Es folgte eine Einheilphase von sechs Monaten und vorheriger Austestung der Bisslage mit verblockten Langzeitprovisorien 4-6 für weitere sechs Monate (Abb. 26, 27, 29-34).
Das Einzelzahnimplantat 46 [15] wurde für die definitive Versorgung mit verschraubter Implantateinzelkrone (Lithiumdisilikat IPS e.max Press, Ivoclar) auf Titanabutment (Universal Base Abutments, Nobel Biocare) geklebt, nach erfolgter Einheilphase von 6 Monaten, versorgt. Präparation für die definitive Versorgung im Unterkiefer 36,33,43,44 und 45 mit Presskeramikteilkronen. Verschraubte Implantatkrone 046 (Abb. 21-25). Abschliessende Präparation (nach Weichgewebetransplantation 13-23/Verdickung und Versorgung mit Langzeitprovisorium für 10 Monate) für die definitive Versorgung
der Oberkiefer-Front 13-23 mit Feldspatveneers, Abformung (Doppelmischtechnik einzeitig), Zentrikbissnahme, Gesichtsbogenübertragung, Anproben und definitive Eingliederung in den Folgesitzungen (Abb. 36).
Diskussion
In der klinischen, funktionellen Verlaufsdokumentation (Follow-up nach 1 und nach 2 Jahren (Abb. 37-42) zeigten sich stabile und reizfreie Hart- und Weichgewebsverhältnisse. Mit dem Fokus auf die funktionell kompromittierte Ausgangssituation wurde nach einem Jahr eine Condylografie vorgenommen.
Insgesamt betrachtet entsprechen die Aufzeichnungen in ihrer Qualität, Quantität, Charakteristik, Symmetrie und in der transversalen Evaluation dem der vorangegangenen Aufzeichnungen. Sie sind aber aufgrund der klinisch völlig unauffälligen und beschwerdefreien Situation nicht weiter therapierelevant. Zudem zeigen die Aufzeichnungen Schlucken, Bruxieren und Kauen keine Vektoren mehr an, welche gelenkkapselschädigenden Charakter aufweisen könnten.
Das bedeutet: Die Kaumuskulatur arbeitet mit weniger Kraft (keine Vermeidungs- und Ausweichbewegungen) und mehr Effizienz (verbesserte Okklusion und Artikulation). Die Therapieplanung (im Sinne eines „Backward-Plannings“) und deren gezielte Umsetzung bieten somit eine hohe Vorhersagbarkeit für eine langfristige Prognose der Rekonstruktion. Die Patientin ist subjektiv beschwerdefrei (keine Anzeichen einer Dekompensation in der klinischen Funktionsanalyse) und zeigt keine Druckdolenz der (Kau-) Muskulatur und/oder der Gelenke [16,17].
Näheres zu den Autoren des Fachbeitrages: Dr. Msc. Msc. Sven Egger, ZTM Christian Berg, Dr. Markus Greven M.Sc. Ph.D
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